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Ist Gott ein Mathematiker

Ist Gott ein Mathematiker

Titel: Ist Gott ein Mathematiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Livio
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Syntax und Semantik beziehungsweise in der Linguistik) gezeigt, dass Grammatik und Schlussfolgern aufs Engste mit einer Algebra der Aussagenlogik verflochten sind. Warum aber gibt es dann mehr als 6500 Sprachen und nur eine Mathematik? Nun, genau genommen haben womöglich all die verschiedenen Sprachen eine ganze Reihe von Gestaltungsmerkmalen gemeinsam. So hat zum Beispiel der amerikanische Linguist Charles F. Hockett (1916–2000) in den 1960er Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass alle Sprachen über eingebaute Mechanismen zum Erwerb neuer Worte und Phrasen verfügen (denken Sie nur an «Internetseite», «Laptop» oder «Indie-Streifen» und Ähnliches). Genauso erlauben alle Sprachen des Menschen Abstraktionen (zum Beispiel Begriffe wie «Surrealismus», «Größe», «Abwesenheit»), Verneinungen (Beispiel «nicht», «hat nicht») und hypothetische Aussagen («Wenn meine Oma Räder hätte, wäre sie ein Omnibus»). Die beiden vielleicht wichtigsten Merkmale aller Sprachen sind ihre unbeschränkten Möglichkeiten und ihre Unabhängigkeit vom eintreffenden Reiz. Mit Ersterem meine ich die Möglichkeit, nie zuvor gehörte Lautkombinationen zu äußern und zu verstehen. So kann ich zum Beispiel einen Satz bilden wie: «Leise, leise zieht die Meise ihre Kreise», und obwohl Sie diesen Satz vermutlich nie zuvor gehört haben, fällt es Ihnen nicht schwer, ihn zu verstehen. Reizunabhängigkeit beschreibt die Möglichkeit, wählen zu können, wie oder gar ob man auf einen empfangenenReiz reagieren will. So kann die Antwort auf eine Schlagertextzeile des Inhalts «Hast du mich morgen noch lieb?» genauso gut lauten: «Ich weiß nicht einmal, ob ich morgen noch lebe», wie «Klar doch», «Ich lieb dich jetzt schon nicht», «Nicht so sehr wie meinen Hund», «Das ist definitiv unser schönster Schlager» oder gar «Ich frage mich, wer dieses Jahr die Australian Open gewinnt». Ihnen wird aufgefallen sein, dass viele dieser Merkmale (zum Beispiel: Abstraktion, Verneinung, Unbeschränktheit und die Fähigkeit, eine Evolution zu durchlaufen) auch Merkmale der Mathematik sind.
    Wie bereits erwähnt, betonen Lakoff und Núñez die Rolle von Metaphern in der Mathematik. Kognitive Linguisten vertreten überdies die Ansicht, dass alle menschlichen Sprachen zum Ausdruck von so gut wie allem Metaphern verwenden. Noch wichtiger ist vielleicht, dass sich seit dem Jahr 1957– jenem Jahr, in dem der berühmte Linguist Noam Chomsky seine bahnbrechende Arbeit
Strukturen der Syntax
publiziert hat – viele linguistische Bemühungen um das Konzept einer Universalgrammatik drehen – gewisse Prinzipien, die alle Sprachen steuern. Mit anderen Worten: Hinter dem, was sich als babylonisches Sprachengewirr ausnimmt, verbirgt sich womöglich ein überraschendes Maß an struktureller Ähnlichkeit. Wäre dem nicht so, hätten Wörterbücher wohl nie funktioniert.
    Vielleicht fragen Sie sich noch immer, warum die Mathematik sowohl im Hinblick auf ihre Inhalte als auch ihre symbolische Notation derart uniform ist. Vor allem der erste Teil der Frage ist ungeheuer faszinierend. Die meisten Mathematiker sind sich darüber einig, dass sich die Mathematik, wie wir sie kennen, aus den beiden Zweigen Geometrie und Arithmetik entwickelt hat, wie sie von den Babyloniern, Ägyptern und Griechen praktiziert wurden. War es jedoch wirklich unausweichlich, dass die Mathematik mit diesen beiden Disziplinen angefangen hat? Der Computerwissenschaftler Stephen Wolfram vertritt in seinem umfangreichen Buch
A New Kind of Science
(«Eine neue Art von Wissenschaft») die These, dass dem nicht notwendigerweise so ist. Insbesondere zeigt Wolfram, wie man, ausgehend von einem einfachen Satz von Regeln, die wie kleine Computerprogramme wirken (sogenannte
zelluläre Automaten),
eine ganz andere Art von Mathematik entwickeln kann. Diese zellulären Automatenkönnten (zumindest im Prinzip) als Werkzeuge zum Modellieren von Naturphänomenen verwendet werden und die Differentialgleichungen ersetzen, die drei Jahrhundert hindurch die Wissenschaft dominiert haben. Was also hat die alten Kulturen dahin gebracht, unsere spezielle «Art» Mathematik zu entdecken und zu erfinden? Ich weiß es wirklich nicht, aber vielleicht hat es viel mit den Details des menschlichen Wahrnehmungssystems zu tun. Menschen nehmen Kanten, gerade Linien und Kurven sehr rasch wahr. Denken Sie nur daran, mit welch großer Genauigkeit Sie (mit dem bloßen Auge) feststellen, ob eine Linie gerade oder

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