Ist Gott ein Mathematiker
Gehirn etwas gibt, was wir vielleicht als «bewusste Abteilung» bezeichnen können, in der sich das Simulieren und Kreieren von neuen Gegenständen räumlich-physikalisch abspielt … In gewisser Hinsicht sind diese neuen mathematischen Gegenstände dann so etwas wie lebende Wesen: Genau wie diese sind sie physikalische Objekte, die einer raschen Evolution unterworfen sind. Im Unterschied aber zu Lebewesen … findet diese Evolution in unserem Gehirn statt.
Das entschiedendste Statement im Zusammenhang mit der Frage Erfindung oder Entdeckung stammt wohl von dem Kognitionswissenschaftler und Linguisten George Lakoff und dem Psychologen Rafael Núñez in ihrem nicht unumstrittenen Buch
Where Mathematics Comes From
(«Woher die Mathematik kommt»). Wie bereits im Vorhergehenden berichtet, verkündeten sie:
Mathematik ist ein natürlicher Bestandteil unseres Menschseins. Sie entspringt unserem Körper, unserem Gehirn und unseren Alltagserfahrungen in der Welt. [Lakoff und Núñez vertreten somit die Ansicht, die Mathematik entspringe dem «verkörperten Geist».] … Mathematik ist ein System aus menschlichen Begriffen und Konzepten, das sich der normalen Werkzeuge menschlicher Erkenntnis in außerordentlicher Weise bedient … Die Menschen waren für die Erschaffung der Mathematik verantwortlich, und wir bleiben auch dafür verantwortlich, sie zu erhalten und zu erweitern. Das Porträt der Mathematik zeigt ein menschliches Gesicht.
Kognitionswissenschaftler gründen ihre Schlussfolgerungen auf, wie sie finden, überzeugende Beweise aus zahlreichen Experimenten. Bei einigen dieser Studien wurde das Gehirn der Probanden während der Bearbeitung von mathematischen Aufgabenstellungen mit bildgebenden Verfahren beobachtet. Bei anderen ging es um die mathematischen Fähigkeiten von Kleinkindern, Jägern und Sammlern wie den Mundurukú, die nie eine Schulbildung genossen haben, und von Menschen mit verschiedenen Arten von Hirnschädigungen. Die meisten Forscher sind sich darin einig, dass gewisse mathematische Fähigkeiten offenbar angeboren sind. So sind zum Beispiel alle Menschen imstande, auf einen Blick zu sagen, ob sie nun einen Gegenstand oderzwei oder drei vor sich haben (man bezeichnet diesen Vorgang auch als
Subitisation).
Eine sehr eingeschränkte Version von Arithmetik in Gestalt des Gruppierens, der Paarbildung und einfacher Subtraktionen und Additionen mag sogar noch angeboren sein, vielleicht auch ein gewisses Grundverstehen geometrischer Gegebenheiten (wobei Letzteres eher umstritten ist). Auch haben Neurowissenschaftler Regionen im Gehirn identifiziert – zum Beispiel den Gyrus angularis in der linken Hirnhälfte –, die für das Jonglieren mit Zahlen und mathematische Berechnungen, nicht aber für die Sprache oder das Arbeitsgedächtnis von entscheidender Bedeutung sind.
Laut Lakoff und Núñez besteht unser Hauptinstrument, um über diese angeborenen Fertigkeiten hinauszukommen, in der Konstruktion sogenannter
konzeptueller Metaphern –
gewissen Denkprozessen, die abstrakte Begriffe in konkretere umsetzen und so in
metaphorische Konzepte
münden. Die Arithmetik gründet zum Beispiel auf der einfachen Metapher einer Anzahl von Gegenständen. Das hochkomplexe Szenario, das Lakoff und Núñez entworfen haben, bietet interessante Einblicke in die Frage, warum Menschen mit einigen mathematischen Konzepten größere Probleme haben als mit anderen. Andere Forscher wie die Neurowissenschaftlerin Rosemary Varley von der University of Sheffield mutmaßen, dass zumindest einige mathematische Strukturen auf dem Sprachvermögen «parasitieren» – manche mathematischen Einsichten sich formen, indem sie sich mentale Werkzeuge ausborgen, die eigentlich im Dienste des Spracherwerbs stehen.
Kognitionswissenschaftler tendieren, allgemein gesprochen, weit eher zu der Ansicht, dass unsere Mathematik eng mit dem menschlichen Geist assoziiert ist, und weniger zum Platonismus. Interessanterweise kommt das, was ich als stärkstes Argument gegen den Platonismus erachte, nicht von einem Neurobiologen, sondern von Sir Michael Atiyah, einem der größten Mathematiker des 20. Jahrhunderts. Ich hatte seine Argumente in Kapitel 1 kurz angerissen, möchte sie an dieser Stelle aber gerne etwas detaillierter darstellen.
Wenn Sie ein Konzept unserer Mathematik herausgreifen sollten, bei dem die Wahrscheinlichkeit, dass es unabhängig vom menschlichen Geist existiert, am größten ist – welches würden Sie wählen? Die meisten
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