Ist Gott ein Mathematiker
233 = 1,618026 und so weiter.
In jüngerer Zeit hat man festgestellt, dass man sogar bei Gegebenheiten wie der Blattstellung mancher Pflanzen oder der Kristallstruktur bestimmter Aluminiumlegierungen auf Fibonacci-Zahlen und somit auf den Goldenen Schnitt stößt.
Warum ich Euklids Definition des Begriffs Goldener Schnitt als Erfindung einstufe? Weil Euklids schöpferischer Geist dieses Verhältnis dargestellt und die Aufmerksamkeit der Mathematiker darauf gelenkt hat. In China hingegen, wo der Begriff des Goldenen Schnitts nicht eingeführt wurde, enthält die mathematische Literatur auch keinerlei Hinweis darauf. Und in Indien, wo er ebenfalls keine gesonderte Aufmerksamkeit erfahren hat, findet das Phänomen des Goldenen Schnitts nur in einigen unbedeutenden trigonometrischen Sätzen beiläufige Erwähnung.
Es gibt viele andere Beispiele, die zeigen, dass die Frage «Ist Mathematik eine Erfindung oder eine Entdeckung?» nicht eben glücklich formuliert ist.
Unsere Mathematik ist eine Kombination aus beidem – aus Erfindungen und Entdeckungen.
Die Axiome der euklidischen Geometrie waren Erfindung, so wie die Regeln des Schachs eine Erfindung sind. Auch wurden die Axiome von einer ganzen Reihe erfundener Begriffe ergänzt – Dreiecke, Parallelogramme, Ellipsen, Goldener Schnitt und so weiter. Die Sätze der euklidischen Geometrie hingegen waren im Großen und Ganzen Entdeckungen, erhellten die Verbindungen zwischen den einzelnen Begriffen. In einigen Fällen wurden die Sätze durch Beweise gewonnen – Mathematiker untersuchten,was sie beweisen konnten, und leiteten daraus Sätze her. In anderen wurde, wie es Archimedes in seiner
Methodenlehre
beschreibt, zuerst die Antwort auf eine bestimmte Frage von Interesse gefunden und dann erst der Beweis ausgearbeitet.
Begriffe waren im Regelfall Erfindungen. Primzahlen als Begriff waren eine Erfindung, die Theoreme über Primzahlen aber waren Entdeckungen. Die Mathematiker des alten Babylon, in Ägypten und China haben trotz ihrer hoch entwickelten Mathematik nie den Begriff der Primzahlen erfunden. Könnten wir daher sagen, sie haben sie nicht «entdeckt»? Mit nicht mehr Recht, als wir sagen könnten, das Vereinigte Königreich habe keine festgeschriebene allgemeine Verfassung «entdeckt». So wie ein Land mit einer ungeschriebenen Verfassung überleben kann, kann sich eine komplexe Mathematik ohne den Begriff der Primzahl entwickeln. Und so ist es geschehen!
Wissen wir, warum die Griechen solche Begriffe und Konzepte wie Axiome und Primzahlen erfunden haben? Nicht ganz sicher, aber wir können mutmaßen, dass dies Teil ihrer unermüdlichen Bestrebungen war, die grundlegenden Prinzipien des Universums zu ergründen. Primzahlen sind der Grundbaustein von Zahlen, so wie Atome die Bausteine von Materie sind. Genauso galten die Axiome als Urquell, aus dem sämtliche geometrischen Wahrheiten fließen sollten. Das Dodekaeder stand für den gesamten Kosmos, und der Goldene Schnitt war das, was diesem Symbol zum Dasein verhalf.
Diese Diskussion beleuchtet einen anderen interessanten Aspekt der Mathematik – sie ist Teil der menschlichen Kultur. Als die Griechen das Axiomatisieren erst einmal erfunden hatten, folgten sämtliche Kulturen Europas ihnen auf dem Fuße und übernahmen ihre Philosophie und ihre Praktiken. Der Anthropologe Leslie A. White (1900–1975) versuchte einst, diesen kulturellen Aspekt in Worte zu fassen: «Wäre Newton bei den Hottentotten [einer einst wohl nicht allzu schmeichelhaft gemeinten Bezeichnung für die indigenen Völker Südafrikas] aufgewachsen, hätte er wie ein Hottentotte gerechnet.» Dieser kulturelle Aspekt der Mathematik ist höchstwahrscheinlich auch dafür verantwortlich, dass viele mathematische Entdeckungen (zum Beispiel die der Knoteninvarianten) und sogar einige der großen Erfindungen (zum Beispiel die Infinitesimalrechnung)zur gleichen Zeit unabhängig voneinander von mehreren Personen gemacht wurden.
Sprechen Sie Mathematisch?
In einem früheren Abschnitt hatte ich die Einführung des abstrakten Begriffs Zahl mit der Übereinkunft über den Bedeutungsgehalt eines Wortes verglichen. Ist die Mathematik demnach eine Art von Sprache? Erkenntnisse aus der mathematischen Logik einerseits und aus der Linguistik andererseits zeigen, dass dies zu einem gewissen Grad stimmt. Die Arbeiten von Boole, Frege, Peano, Russell, Whitehead, Gödel und deren Nachfolgern im 21. Jahrhundert haben (vor allem auf Gebieten wie Philosophischer
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