Ist Gott ein Mathematiker
dass die Mathematik teils geschaffen und teils entdeckt wird. Menschen sind damit befasst, mathematische Begriffe zu erfinden und die Beziehungen zwischen diesen zu entdecken. Sicher sind manche empirischen Entdeckungen der Formulierung von Konzepten vorausgegangen, aber die Konzepte selbst waren zweifellos Ansporn für die Entdeckung weiterer Sätze. Einige Mathematikphilosophen wie der Amerikaner Hilary Putnam nehmen eine Mittlerposition ein, die man als
Realismus
bezeichnet – sie glauben an die Objektivität des mathematischen Diskurses (das heißt, dass Sätze entweder wahr oder falsch sind und dass das, was sie wahr oder falsch macht, außerhalb des Menschen liegt), ohne sich wie die Platoniker dem Glauben an die Existenz «mathematischer Objekte» zu verschreiben. Führt irgendeine dieser Einsichten zu einer zufriedenstellenden Antwort auf das Wigner’sche Rätsel der «unbegreiflichen Erklärungsmacht»?
Lassen Sie mich zunächst einige mögliche Antworten namhafter zeitgenössischer Denker vorstellen. Der Physiknobelpreisträger David Gross schreibt:
Ein Standpunkt, der meiner Erfahrung nach unter kreativen Mathematikern nicht ungewöhnlich ist, besteht darin, dass die mathematischen Strukturen, zu denen sie gelangen, keine künstlichen Auswüchse des menschlichen Geistes sind, sondern ihnen vielmehr eine Natürlichkeit anhaftet, als seien sie nicht minder real als die von Physikern erdachten Strukturen zur Erklärung der sogenannten wirklichen Welt. Mit anderen Worten: Mathematiker erfinden keine neue Mathematik, sie entdecken sie. Wenn das stimmt, werden manche vermeintlichen Mysterien, die wir erforscht haben [das der «unbegreiflichen Erklärungsmacht»] ein bisschen weniger rätselhaft. Wenn Mathematik von Strukturen handelt, die realer Teil der natürlichen Welt sind, so real wie die Konzepte der theoretischen Physiker, dann verwundert es nicht, dass sie ein so wirksames Instrument zur Analyse der realen Welt darstellt.
Mit anderen Worten: Gross geht von einer «Mathematik als Entdeckung» aus, die irgendwo zwischen der platonischen Welt und dem Paradigma «Das Universum
ist
Mathematik» angesiedelt ist, allerdings ein bisschen näher am platonischen Standpunkt liegt. Wie wir gesehen haben, ist es jedoch schwierig, das Entdeckungsparadigma philosophisch zu untermauern. Hinzu kommt, dass der Platonismus das in Kapitel 8 beschriebene Problem der phänomenologischen Genauigkeit im Grunde nicht zu lösen vermag, ein Punkt, der auch von Gross anerkannt wird.
Sir Michael Atiyah, dessen Betrachtungsweise zur Natur der Mathematik ich mich im Großen und Ganzen anschließen möchte, sieht die Dinge folgendermaßen:
Wenn man das Gehirn in seinem evolutionären Kontext betrachtet, dann lässt sich der geheimnisvolle Erfolg der Mathematik auf dem Gebiet der physikalischen Wissenschaften zumindest teilweise erklären. Das Gehirn hat eine Evolution durchlaufen, die es ihm ermöglicht, die physikalische Welt zu erschließen, es sollte daher nicht allzu sehr verwundern, dass es eine Sprache – die Mathematik – entwickelt hat, die für diesen Zweck sehr gut geeignet ist.
Diese Begründung klingt sehr ähnlich wie das, was die Kognitionswissenschaften zu bieten haben. Atiyah gesteht allerdings zu, dass sie kaum die kniffligeren Facetten des Problems zu erklären vermag – wie die Mathematik zu den esoterischeren Aspekten der physikalischen Welt passt. Insbesondere lässt sie die Frage der «passiven» Effizienz, wie ich sie genannt habe (die Erfahrung, dass mathematische Konzepte manchmal lange nach ihrer Erfindung plötzlich praktische Anwendung finden) völlig offen. Atiyah sagt dazu: «Der Skeptiker kann einwenden, dass der Kampf ums Überleben uns nur abverlangenwürde, mit physikalischen Phänomenen in menschlichen Größenordnungen umzugehen, wohingegen die mathematische Theorie aber offensichtlich mit allen möglichen Dimensionen vom Subatomaren bis zum Galaktischen höchst erfolgreich zu hantieren vermag.» Seine diesbezügliche Vermutung lautet: «Vielleicht hat die Erklärung mit der abstrakt-hierarchischen Natur der Mathematik zu tun, die uns in die Lage versetzt, die Größenordnungen des Weltgefüges mit vergleichsweise großer Leichtigkeit hinauf- und hinunterzuklettern.»
Der amerikanische Mathematiker und Computerwissenschaftler Richard Hamming (1915–1998) hat 1980 einen sehr ausführlichen und interessanten Beitrag zum Thema Wigner’sches Mysterium geleistet. Zunächst kam er, was die
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