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Ist Gott ein Mathematiker

Ist Gott ein Mathematiker

Titel: Ist Gott ein Mathematiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Livio
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Beschaffenheit und Farbe vermittels eines abstrakten Begriffs darstellen konnten, den sie erdacht hatten – durch eine natürliche Zahl. Das heißt, die Menge an weißen Steinchen konnte mit der Zahl 4 assoziiert werden (oder auch IIII oder IV oder was immer zu jener Zeit an Symbolen verwendet wurde) und die schwarzen mit der Zahl 7. Mithilfe von Experimenten, wie ich sie im Vorhergehenden beschrieben habe, haben Menschen auch herausgefunden, dass ein weiteres von ihnen ersonnenes Konzept – die Addition – korrekt den physischen Akt des Zusammenfügens von Dingen beschreibt. Mit anderen Worten: Das Ergebnis des abstrakten Vorgangs, der symbolisch durch 4 + 7 dargestellt ist, vermag eindeutig die Zahl der Steinchen in der Urne vorhersagen. Was das alles heißt? Es heißt, dass Menschen ein unglaubliches mathematisches Werkzeug entwickelt hatten – eines, mit dem sich verlässlich das Ergebnis
jedes
Experiments dieser Art vorhersagen ließ! Dieses Werkzeug ist in Wirklichkeit weit weniger trivial, als es vielleicht den Anschein hat, denn eben dasselbe Werkzeug funktioniert beispielsweise nicht für Wassertropfen. Wenn Sie vier Tropfen Wasser in Ihre Urne tropfen lassen und dann sieben dazutun, haben Sie in Ihrem Gefäß keine elf distinkten Tropfen. Ja, um irgendeine Vorhersage für ähnliche Experimente mit Flüssigkeiten (oder Gasen) machen zu können, mussten die Menschen völlig andere Konzepte entwickeln (Gewicht zum Beispiel) und erkennen, dass sie jeden Tropfen oder jede Volumeneinheit Gas für sich zu wiegen hatten.
    Die Lektion daraus ist klar. Die mathematischen Instrumentewurden nicht willkürlich gewählt, sondern vielmehr sehr genau abgestimmt auf ihre Fähigkeit, die Ergebnisse der relevanten Experimente und Beobachtungen erklären und vorhersagen zu können. Zumindest für diesen trivialen Fall war ihre Effizienz demnach garantiert. Menschen mussten nicht im Vorhinein raten, wie die passende Mathematik aussehen würde. Die Natur hat ihnen den Luxus von Versuch und Irrtum beschert, mit dem sie herausfinden können, was funktioniert. Sie mussten überdies nicht unter allen Umständen bei denselben Werkzeugen bleiben. Manchmal gab es den passenden mathematischen Formalismus für ein gegebenes Problem einfach nicht, und jemand musste ihn erfinden (wie im Falle Newtons, als er die Infinitesimalrechnung erfand, oder moderner Mathematiker, die im Zusammenhang mit den jüngsten Vorstößen auf dem Gebiet der Stringtheorie verschiedene topologisch-geometrische Ideen entwickelt haben). In anderen Fällen hat der Formalismus bereits existiert, doch musste noch jemand entdecken, dass dieser eine Lösung war, die noch des richtigen Problems harrte (wie im Fall der Einstein’schen Hinwendung zur Riemann’schen Geometrie oder der Auseinandersetzung der Teilchenphysiker mit der Gruppentheorie). Der springende Punkt ist, dass Menschen durch brennende Neugier, hartnäckige Ausdauer, schöpferische Fantasie und finstere Entschlossenheit imstande gewesen sind, mathematische Formalismen zur Modellierung einer großen Zahl physikalischer Phänomene zu finden.
    Ein Merkmal der Mathematik, das für das, was ich als «passive» Effizienz bezeichnet habe, absolut unerlässlich war, ist ihre buchstäblich ewige Gültigkeit. Die euklidische Geometrie ist heute genauso korrekt wie im Jahr 300 v. Chr. Wir wissen heute, dass ihre Axiome nicht allein selig machend sind und dass sie, statt absolute Wahrheiten über den Raum zu liefern, vielmehr Wahrheiten innerhalb eines bestimmten, vom Menschen wahrgenommenen Universums und den ihm zugehörigen, vom Menschen erdachten Formalismus abbilden. Dennoch, wenn wir den engeren Zusammenhang betrachten, treffen alle ihre Sätze zu. Mit anderen Worten: Zweige der Mathematik können in übergeordnete, umfassendere Zweige integriert werden (so ist die euklidische Geometrie nur eine mögliche Form von Geometrie), aber die Genauigkeit innerhalb des jeweiligen Zweiges bleibt bestehen.Es ist diese unbegrenzte Langlebigkeit, die es Wissenschaftlern ermöglicht, im Arsenal bereits entwickelter Formalismen immer und zu jeder Zeit nach passenden mathematischen Werkzeugen zu suchen.
    Das einfache Beispiel mit den Steinchen in der Urne lässt zwei Elemente des Wigner’schen Rätsels unberührt. Erstens stellt sich die Frage, warum wir offenbar in manchen Fällen mehr Genauigkeit aus einer Theorie herausbekommen, als wir hineingesteckt haben. Bei dem Experiment mit den Steinchen liegt die

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