Ist Gott ein Mathematiker
Frage der Natur der Mathematik betrifft, zu dem Schluss, dass «Mathematik vom Menschen gemacht und deshalb dazu angetan ist, unablässig vom Menschen verändert zu werden». Dann schlug er vier mögliche Erklärungen für die unbegreifliche Effektivität der Mathematik vor: (1) Selektionseffekte, (2) die Evolution mathematischer Instrumente, (3) die Grenzen mathematischer Erklärungsmacht und (4) die Evolution des Menschen.
Zum ersten Punkt: Man erinnere sich, dass Selektionseffekte zum Beispiel Verzerrungen von Versuchsergebnissen bewirken – bedingt durch Messungenauigkeiten der verwendeten Apparatur oder durch die Art und Weise, wie die Daten gesammelt wurden. Wollte ein Forscher beispielsweise bei einem Test zur Wirksamkeit einer Diät alle Probanden ausschließen, die den Versuch abbrechen, würde das Ergebnis verfälscht, denn höchstwahrscheinlich brechen diejenigen ab, bei denen die Diät nicht angeschlagen hat. Mit anderen Worten: Hamming mutmaßt, dass zumindest in manchen Fällen «das ursprüngliche Phänomen durch die mathematischen Werkzeuge zustande kommt, die wir verwenden, und nicht der realen Welt entstammt … vieles von dem, was wir sehen, verdanken wir der Brille, die wir gerade aufhaben.» Als Beispiel verweist er darauf, dass sich zeigen lässt, dass jede Kraft, die sich von einem gegebenen Punkt aus im dreidimensionalen Raum (unter minimalem Energieaufwand) symmetrisch ausbreitet, einem inversquadratischen Gesetz gehorchen müsse, weshalb die Gültigkeit des Newton’schen Gravitationsgesetzes niemanden verwundern sollte. Hammings Einwand ist durchaus treffend, aber Selektionseffektekönnen kaum die fantastische Genauigkeit mancher Theorien erklären.
Hammings zweite Erklärung betrifft die Tatsache, dass Menschen sich ständig mit Mathematik befassen und diese unablässig optimieren, um sie bestimmten Situationen anzupassen. Mit anderen Worten: Hamming schlägt vor, dass das, was wir beobachten, ein Prozess der «Evolution und natürlichen Selektion» mathematischer Ideen ist – Menschen erfinden jede Menge mathematische Konzepte, und nur die, die passen, werden übernommen. Viele Jahre hindurch habe ich das für die vollständige Erklärung gehalten. Eine ähnliche Erklärung lieferte auch der Physiknobelpreisträger Steven Weinberg in seinem Buch
Der Traum von der Einheit des Universums.
Ist das
die
Erklärung für das Wigner’sche Rätsel? Kein Zweifel kann daran bestehen, dass Selektion und Evolution in der Tat stattfinden. Wissenschaftler durchforsten ständig das Spektrum der möglichen mathematischen Formalismen und Instrumente, picken sich diejenigen heraus, die funktionieren, und zögern keinen Augenblick, sie zu verbessern oder zu verwerfen, wenn bessere verfügbar werden. Doch selbst wenn wir uns diese Vorstellung zu eigen machen, bleibt immer noch die Frage, warum mathematische Theorien das Universum überhaupt erklären können.
Hammings dritter Punkt lautet, dass unser Eindruck von der ungeheuren Erklärungsmacht der Mathematik in Wirklichkeit nur eine Illusion ist, da sich in der Welt, die uns umgibt, eine Menge Dinge finden, die die Mathematik nicht erklären kann. Zugunsten dieser Ansicht könnte ich zum Beispiel anführen, dass der Mathematiker Israel Moissejewitsch Gelfand einmal gesagt haben soll: «Es gibt nur eine Sache, die unbegreiflicher ist als die unbegreifliche Effizienz der Mathematik für die Physik, und das ist die unbegreifliche
Ineffizienz
[Kursivierung von mir] der Mathematik für die Biologie.» Ich glaube nicht, dass dies allein Wigners Frage beantwortet. Es stimmt, dass wir anders als in
Per Anhalter durch die Galaxis
nicht sagen können, die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest laute zweiundvierzig, trotzdem gibt es eine hinreichend große Zahl an Phänomenen, die sich mit Hilfe der Mathematik erhellen lassen, so dass dieser Umstand einer Erklärung bedarf. Hinzukommt, dass sich das Spektrum an Tatsachen und Prozessen, die sich mittels Mathematik interpretieren lassen, unablässig erweitert.
Hammings vierter Punkt kommt dem von Michael Atiyah recht nahe – dem zufolge eine «Darwinsche Evolution durch natürliche Selektion das Überleben derjenigen unter den konkurrierenden Lebensformen begünstigen würde, deren Geist mit dem besten Realitätsmodell aufwarten kann – wobei ‹beste› bedeutet, bestangepasst im Sinne des Überlebens und der Fortpflanzung.»
Der Computerwissenschaftler Jef Raskin
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