Ist Gott ein Mathematiker
Genauigkeit der «vorhergesagten» Ergebnisse (die Gesamtzahl an Kieseln) nicht wesentlich über der Genauigkeit des Experiments, das die Formulierung der «Theorie» (der arithmetischen Addition) überhaupt erst angestoßen hatte. Im Falle von Newtons Gravitationstheorie hingegen geht die Genauigkeit der bisher nachgeprüften Vorhersagen weit über die der Beobachtungen hinaus, die diese Theorie inspiriert haben. Warum? Ein kurzer retrospektiver Blick auf die Geschichte der Newton’schen Theorie gibt hier womöglich Aufschluss.
Das geozentrische Modell des Ptolemäus hat fast fünfzehnhundert Jahre unangefochten bestanden. Auch wenn es keinen Anspruch auf Universalität erhob – die Bewegung der einzelnen Planeten wurde gesondert betrachtet – und keine Rede von den physikalischen Ursachen (zum Beispiel Kräften und Beschleunigung) war, schien die Übereinstimmung mit dem, was beobachtet wurde, vernünftig. Nikolaus Kopernikus (1473–1543) veröffentlichte 1543 sein heliozentrisches Modell, und Galilei sorgte dafür, dass dieses Modell sozusagen festen Boden unter den Füßen bekam. Galilei sorgte auch für die Fundamente der Bewegungsgesetze. Doch es war Kepler, der aus seinen Beobachtungen das erste mathematische (wenn auch nur phänomenologische) Gesetz der Planetenbewegung herleitete. Kepler zog die umfassende Datensammlung aus dem Nachlass des Astronomen Tycho Brahe heran, um die Umlaufbahn des Mars zu errechnen. Er nannte die sich daraus ergebenden Hunderte von Seiten seinen «Krieg mit Mars». Mit Ausnahme zweier Abweichungen stimmte eine kreisförmige Umlaufbahn mit allen Beobachtungen überein. Dennoch war Kepler mit dieser Lösung nicht ganz einverstanden, und er beschreibt später seinen Denkprozess: «Wenn ich geglaubt hätte, dass wir diese acht Minuten [gemeint sind acht Bogenminuten] außer Acht lassenkönnten, hätte ich meine Hypothese umgearbeitet, um dem Rechnung zu tragen. Nun aber, da es nicht erlaubt war, sie außer Betracht zu lassen, waren es diese acht Bogenminuten, die allein einer vollständigen Neuordnung der Astronomie den Weg wiesen.» Die Folgen seiner Akribie waren an Dramatik nicht zu überbieten. Kepler folgerte, dass die Umlaufbahnen der Planeten nicht kreisförmig, sondern elliptisch sein müssten, und formulierte zwei weitere quantitative Gesetze, die für
alle
Planeten galten. Und als sich diese Gesetze mit Newtons Bewegungsgesetzen verbanden, wurden sie zur Grundlage von Newtons Gravitationsgesetz. Erinnern Sie sich jedoch, dass auf halbem Wege Descartes mit seiner Wirbeltheorie auf der Bildfläche erschien, der zufolge die Planeten durch Wirbel sich bewegender Teilchen um die Sonne getragen wurden. Mit dieser Theorie konnte man, schon bevor Newton gezeigt hatte, dass sie nicht schlüssig ist, nicht allzu weit kommen, denn Descartes hat nie einen systematischen mathematischen Umgang mit seinen Wirbeln entwickelt.
Was lernen wir also aus dieser kurzen Geschichte? Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Newtons Gravitationsgesetz das Werk eines Genies war. Ein Teil der Grundlagen dafür war in mühevoller Kleinarbeit von früheren Wissenschaftlern gelegt worden. Wie ich in Kapitel 4 berichtet habe, hatten auch weit weniger große Mathematiker als Newton wie der Architekt Christopher Wren und der Physiker Robert Hooke unabhängig voneinander das inversquadratische Abstandsgesetz der Anziehungskraft vorgeschlagen. Newtons Größe zeigte sich in seiner unerreichten Fähigkeit, alle Erkenntnisse zu einer einheitlichen Theorie zusammenzufassen, und in seinem beharrlichen Bestreben, die Konsequenzen seiner Theorie mathematisch hieb- und stichfest durch einen Beweis zu untermauern. Warum traf dieser Formalismus so genau ins Schwarze? Teils, weil er ein absolut grundlegendes Problem betraf – die Anziehungskräfte, die zwischen zwei Körpern wirken, und die daraus resultierende Bewegung. Keine weiteren Faktoren komplizierten das Problem. Allein und nur für dieses Problem gelangte Newton zu einer absoluten Lösung. Die zugrunde liegende Theorie war somit extrem genau, ihr Geltungsbereich bedurfte jedoch kontinuierlicher Verfeinerung. Das Sonnensystem besteht aus mehr als zwei Körpern. Wenn die Effekte der anderen Planeten(immer noch nach dem inversquadratischen Wirkungsgesetz) berücksichtigt werden, hören die Umlaufbahnen auf, einfache Ellipsen zu sein. Zum Beispiel stellt man fest, dass die Planetenbahn der Erde ihre Orientierung im Raum ganz allmählich ändert; man
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