Ist Gott ein Mathematiker
Diese begabten Menschen waren für ihre bitteren Familienfehden fast genauso bekannt wie für herausragende mathematische Leistungen. Meist haben sich die Bernoulli’schen Scharmützel darum gedreht, wer im Wettstreit um die mathematische Vorherrschaft gerade die Nase vorn hatte, doch würden uns einige der Probleme, um die sie seinerzeit gestritten haben, dieser Tage wohl nicht übermäßig aufregend vorkommen. Immerhin haben die von ihnen gefundenen Lösungen für bestimmte verzwickte Probleme in vielen Fällen den Weg für eindrucksvolle mathematische Durchbrüche geebnet. Alles in allem steht außer Frage, dass die Bernoullis eine wichtige Rolle dabei gespielt haben, die Mathematik als Sprache zu etablieren, in der sich eine Fülle an physikalischen Prozessen ausdrücken und beschreiben ließ.
Eine kleine Anekdote hilft uns zu ermessen, wie komplex zwei der hellsten Köpfe unter den Bernoullis – die Brüder Jakob (1654–1705) und Johann (1667–1748) – gedacht haben. Jakob Bernoulli war einer der Wegbereiter der
Wahrscheinlichkeitstheorie,
wir werden später in diesem Kapitel auf ihn zurückkommen. Im Jahr 1690 aber war Jakob emsig damit beschäftigt, ein Problem neu aufzurollen, das von
dem
Renaissancemenschen schlechthin, Leonardo da Vinci, zwei Jahrhunderte zuvor erstmals untersucht worden war: Welche Gestalt nimmt eine flexible, in ihrer Länge unveränderliche Kette ein, wennman sie (wie in Abbildung 30) an zwei Punkten befestigt? Leonardo hatte in seinen Skizzenbüchern mehrere solcher Ketten gezeichnet. René Descartes wurde das Problem von seinem Freund Isaac Beeckman ebenfalls vorgelegt, doch gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass er versucht hat, es zu lösen. Die Form, die eine solche Kette annimmt, sollte man letztlich als
Adenoide
(nach dem lateinischen Wort für Kette:
Catania
), Seilkurve oder Kettenlinie bezeichnen. Galilei hatte einst angenommen, dass die Kettenlinie in ihrer Form einer Parabel gleichkäme, war jedoch von dem französischen Jesuiten Ignatius Paradies (1636–1673) in seiner Ansicht widerlegt worden. Der Aufgabe, die mathematisch korrekte Lösung für diese Form zu finden, war Paradies indessen nicht gewachsen gewesen.
Abbildung 30
Nur ein Jahr nachdem Jakob Bernoulli das Problem formuliert hatte, brachte sein jüngerer Bruder es fertig, dieses vermittels einer Differentialgleichung zu lösen. Leibniz und der holländische Physiker Christiaan Huygens (1629–1695) hatten ebenfalls eine Lösung parat, aber Huygens’ Lösung fußte auf einer etwas undurchsichtigen geometrischen Methode. Die Tatsache, dass Johann es fertiggebracht hatte, ein Problem zu lösen, an dem sein Bruder und Lehrer gescheitert war, blieb dem jüngeren Bernoulli noch dreizehn Jahre nach dem Tod Jakobs ein ungeheurer Quell der Befriedigung. In einem Brief, denJohann am 29. September 1718 an den französischen Mathematiker Pierre Rémond de Montmort (1678–1719) schrieb, konnte er seine Freude darüber nicht verbergen:
Ihr sagt, mein Bruder habe dieses Problem formuliert; das ist wahr, aber folgt daraus, dass er auch eine Lösung dafür hatte? Nicht im Geringsten. Als er das Problem auf meinen Vorschlag hin (denn ich war der Erste, der darauf kam) in Worte fasste, waren weder er noch die anderen unter uns imstande, es zu lösen; wir hielten es verzweifelt für unlösbar, bis Herr Leibniz im Jahre 1690 … die Öffentlichkeit davon in Kenntnis setzte, dass er das Problem gelöst habe, seine Lösung jedoch nicht öffentlich machte, als wolle er anderen Analytikern Zeit geben, sich daran zu versuchen, und das war es, was uns, meinen Bruder und mich, veranlasste, uns erneut daranzumachen.
Nachdem er schamlos auch noch die Urheberschaft am Erdenken des Problems an sich gerissen hatte, fuhr Johann mit unverhülltem Entzücken fort:
Die Bemühungen meines Bruders blieben erfolglos, ich für meinen Teil war glücklicher dran, denn mir fiel die Fertigkeit zu (ich sage das ohne Prahlerei, warum sollte ich die Wahrheit verbergen?), es in seiner Gesamtheit lösen zu können … Es ist wahr, dass es mich Arbeit gekostet und mir die Ruhe einer ganzen Nacht geraubt hat … aber am anderen Morgen rannte ich voller Freude zu meinem Bruder, der noch immer, wie Galilei stets von dem Gedanken beseelt, dass die Kettenkurve eine Parabel sei, elendiglich über diesem gordischen Knoten brütete, ohne recht voranzukommen. Halt ein! Halt ein! Sagte ich zu ihm, plage dich nicht länger damit herum, die Übereinstimmung
Weitere Kostenlose Bücher