Ist Gott ein Mathematiker
zwischen der Katenoiden und einer Parabel zu beweisen, denn das ist völlig falsch – Aber dann habt Ihr mich mit der Nachricht erstaunt, dass mein Bruder eine Methode gefunden haben soll, dieses Problem zu lösen … Ich frage Euch: Glaubt Ihr wirklich, dass mein Bruder, wenn er das fragliche Problem wirklich gelöst hätte, mir so entgegengekommen wäre, sich nicht zu dessen Bezwingern zu zählen, nur um mir den Ruhm zu überlassen, allein neben den Herren Huygens und Leibniz in der Riege der Ersten aufzutreten?
Sollten Sie noch einen Beweis dafür gebraucht haben, dass auch Mathematiker nur Menschen sind, so dürfte diese Geschichte mehr als das liefern. Die familiäre Rivalität aber nimmt den Leistungen der Bernoullis nichts von ihrem Glanz. Im Laufe der Jahre, die der Kettenlinien-Episode folgten, lösten Jakob, Johann und Daniel Bernoulli (1700–1782) nicht nur andere ähnliche Probleme zum Durchhang von Seilen und Ketten, sondern brachten auch die Theorie der Differentialgleichungen im Allgemeinen voran und beantworteten die Frage der Bewegung von Geschossen in einem «widerstehenden Medium».
Die Geschichte um die Beschreibung der Kettenlinie illustriert noch eine andere Seite der Macht der Mathematik: Selbst trivial erscheinende physikalische Probleme haben eine mathematische Lösung. Die Form der Katenoide erfreut übrigens noch heute Jahr für Jahr Millionen Menschen in Gestalt des berühmten Torbogens Gateway Arch in St. Louis, Missouri. Gebaut haben diese umgedrehte Katenoide der finnisch-amerikanische Architekt Eero Saarinen (1910–1961) und der deutsch-amerikanische Bauingenieur Hannskarl Bandel (1925–1993).
Der außerordentliche Erfolg der physikalischen Wissenschaften beim Aufdecken von mathematischen Gesetzen, die das Verhalten des Kosmos insgesamt bestimmen, warf unausweichlich die Frage auf, ob biologische, soziale oder ökonomische Prozesse nicht vielleicht ähnlichen Gesetzen unterliegen. Ist die Mathematik nur die Sprache der Natur im Allgemeinen, fragten sich die Mathematiker, oder ist sie auch die Sprache der menschlichen Natur? Und selbst wenn es keine wahrhaft universalen Prinzipien geben sollte – könnten mathematische Werkzeuge nicht trotzdem verwendet werden, um soziales Verhalten abzubilden und letztlich auch zu erklären? Zuerst waren viele Mathematiker einigermaßen überzeugt davon, dass Gesetze, die auf der einen oder anderen Version der Infinitesimalrechnung basierten, die Fähigkeit besitzen sollten, sämtliche kommenden Ereignisse – groß oder klein – vorherzusagen. Diese Ansicht vertrat zum Beispiel der große Mathematiker und Physiker Pierre-Simon de Laplace (1749–1827). Laplaces’ fünf Bände seiner
Mécanique céleste
(«Mechanik des Himmels») lieferten die erste mehr oder minder komplette(wenn auch angenäherte) Erklärung für Bewegungen im Sonnensystem. Außerdem war Laplace der Mann, der eine Frage beantwortete, die selbst einen Giganten wie Newton ins Grübeln gebracht hatte: Warum ist das Sonnensystem so stabil? Newton glaubte, dass die Planeten aufgrund der ihnen eigenen gegenseitigen Anziehung in die Sonne stürzen oder in den freien Raum entschwinden müssten, und machte Gottes Hand dafür verantwortlich, dass das Ganze intakt blieb. Laplace hatte da ganz andere Ansichten. Statt sich auf göttliche Handarbeit zu verlassen, bewies er einfach mathematisch, dass das Sonnensystem über Zeiträume stabil blieb, die weit über das hinausreichten, was Newton sich hatte träumen lassen. Um dieses komplexe Problem anzugehen, führte Laplace einen weiteren mathematischen Formalismus ein, dem man den Namen
Störungstheorie
gegeben hat und der einen in die Lage versetzt, den kumulativen Effekt vieler kleiner Störeinflüsse auf die Umlaufbahn eines Planeten zu errechnen. Schließlich setzte Laplace dem Ganzen die Krone auf, indem er eines der ersten Modelle für den Ursprung des Sonnensystems vorschlug – seiner viel beachteten
Nebularhypothese
zufolge hatte sich das Sonnensystem aus einem sich immer weiter verdichtenden Gasnebel gebildet.
In Anbetracht all dieser eindrucksvollen Tatsachen ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass Laplace in seinem
Philosophischen Versuch über die Wahrscheinlichkeit
kühn verkündete:
Alle Ereignisse, selbst jene, welche wegen ihrer Geringfügigkeit scheinbar nicht mit den großen Naturgesetzen zu tun haben, folgen aus diesen mit derselben Notwendigkeit wie die Umläufe der Sonne. In Unkenntnis ihres Zusammenhangs mit
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