Ist Gott ein Mathematiker
beiseitegelassen, ist für unser gegenwärtiges Anliegen vor allem Descartes’ Überzeugung wichtig, der zufolge Gott sämtliche «ewigen Wahrheiten» geschaffen hat. In einem seiner Briefe erklärte er, dass «die mathematischen Wahrheiten, die sie ewige nennen, von Gott gestiftet worden sind und gänzlich von ihm abhängen, ebenso wie alles übrige Geschaffene». Descartes’ Gott war also nicht nur ein Mathematiker, sondern er war der Schöpfer sowohl der Mathematik als auch einer physikalischen Welt, die sich einzig und allein auf die Mathematik gründete. Dieser Weltsicht zufolge, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts mehr und mehr an Boden gewann, war der Mensch eindeutig ein
Entdecker
der Mathematik, nicht ihr Erfinder.
Wesentlich wichtiger noch: Die Arbeiten von Galilei, Descartes und Newton haben die Beziehung zwischen der Mathematik und den Naturwissenschaften in tiefgreifender Weise verändert. Zum einen bildeten die explosionsartigen Entwicklungen in den Wissenschaften einen starken Ansporn für mathematische Untersuchungen. Zum Zweiten wurden durch Newtons Gesetze selbst die abstrakteren mathematischen Gebiete wie die Infinitesimalrechnung zur
Essenz
physikalischer Erklärungen. Schließlich, und vielleicht am allerwichtigsten, fingen die Grenzen zwischen der Mathematik und den Naturwissenschaften an, bis zur Unkenntlichkeit zu verschwimmen, fast bis hin zu einer kompletten Fusion zwischen mathematischen Einsichten und innovativen Vorstößen in der Forschung. All diese Entwicklungen ließen ein Maß an Begeisterung für die Mathematik entstehen, wie man es vielleicht seit den Tagen der alten Griechen nicht gekannt hatte. Die Mathematiker hatten das Gefühl, dass die Welt ihnen gehöre, es ihnen obliege, sie zu erkunden, und es eine unendliche Fülle zu entdecken gab.
Kapitel 5
STATISTIKER UND WAHRSCHEINLICHKEITSTHEORETIKER: DIE WISSENSCHAFT VON DER UNGEWISSHEIT
Die Welt steht nicht still. Die meisten Dinge um uns herum sind entweder in Bewegung oder verändern sich ständig. Selbst die scheinbar so festgefügte Erde unter unseren Füßen dreht sich unablässig um ihre eigene Achse, umrundet die Sonne und (mit dieser zusammen) das Zentrum unserer Galaxie, der Milchstraße. Die Luft, die wir atmen, besteht aus Billionen Molekülen, die sich unausgesetzt vom Zufall gelenkt bewegen. Während alledem wachsen Pflanzen, zerfallen Moleküle, steigen und sinken die Temperaturen in unserer Atmosphäre im Tagesrhythmus und mit dem Wechsel der Jahreszeiten, nimmt die Lebenserwartung des Menschen immer weiter zu. Diese kosmische Ruhelosigkeit hat die Mathematik jedoch nicht ins Wanken bringen können. Jener Zweig der Mathematik, der als
Infinitesimalrechnung
bezeichnet wird, ist von Newton und Leibniz nämlich genau deshalb eingeführt worden, um eine konzise und genaue Modellierung von Bewegung und Veränderung möglich zu machen. Inzwischen ist dieses unglaubliche Werkzeug so machtvoll und allumfassend geworden, dass es sich auf Probleme anwenden lässt, die so verschieden sind wie die Bewegung eines Spaceshuttles und die Ausbreitung einer Infektion. So wie ein Film Bewegung einfängt, indem er sie in eine Folge aus Einzelbildern zerlegt, vermag die Infinitesimalrechnung Veränderungen in solcher Engmaschigkeit zu messen, dass dadurch die Bestimmung von Größen möglich wird, deren Existenz so flüchtig ist wie die Augenblicksgeschwindigkeit und die Beschleunigung eines Vehikels oder die Zustandsänderung von was auch immer.
Mathematiker im Zeitalter der Aufklärung (im 17. und 18. Jahrhundert)traten mit wahrlich großen Stiefeln in die Fußstapfen von Newton und Leibniz und weiteten die Infinitesimalrechnung zu dem sogar noch wirkungsvolleren, vielseitigen Zweig der
Differentialgleichungen
aus. Mit dieser neuen Waffe gerüstet, war die Wissenschaft nunmehr imstande, mathematische Theorien zu Phänomenen zu entwickeln, die so verschieden waren wie der Klang einer Violinsaite und die Wärmeleitung eines bestimmten Materials, die Bewegung eines Kreisels und das Fließverhalten von Flüssigkeiten und Gasen. Eine ganze Weile wurden Differentialgleichungen zum Instrument der Wahl, wenn es um Fortschritte in der Physik ging.
Einige der ersten Erforscher jener neuen Perspektiven, die sich durch Differentialgleichungen eröffneten, waren Angehörige der legendären Familie Bernoulli. Zwischen Mitte des 17. und Mitte des 19. Jahrhunderts brachte diese Familie nicht weniger als acht berühmte Mathematiker hervor.
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