Ist Gott ein Mathematiker
er sich zu deren aktivstem Mitglied. Die folgenden Jahre waren vor allem der Lehre und der Veröffentlichung mehrerer Abhandlungen zu Fragen der Mathematik, Physik und Astronomie gewidmet.
Quetelet pflegte seine Vorlesung zur Geschichte der Wissenschaft mit folgender kluger Bemerkung zu beginnen: «Je fortgeschrittener die Wissenschaften werden, desto mehr beginnen sie, die Domäne der Mathematik zu erobern, die eine Art Mittelpunkt bildet, in dem alles zusammenfließt. Wir können den Grad an Vollkommenheit, den eine Wissenschaft erreicht hat, daran ablesen, wie – mehr oder minder – gut man sich ihr mittels Berechnungen nähern kann.»
Im Dezember 1823 wurde Quetelet auf Staatskosten nach Paris entsandt, in erster Linie, um sich dort astronomische Beobachtungstechniken anzueignen. Wie sich jedoch zeigen sollte, sorgte dieser dreimonatige Aufenthalt in der damaligen Hauptstadt der mathematischen Welt bei Quetelet für eine völlige Wende Richtung Wahrscheinlichkeitstheorie. Hauptverantwortlich dafür, in ihm das leidenschaftlicheInteresse für dieses Fach entzündet zu haben, war niemand anderer als Laplace selbst. Quetelet fasste seine Erfahrungen mit Statistik und Wahrscheinlichkeiten später folgendermaßen zusammen:
Zufall, jenes mysteriöse, viel missbrauchte Wort, ist nichts anderes als eine Verschleierung unseres Unwissens; er ist ein Phantom, das uneingeschränkte Macht über den gewöhnlichen Verstand ausübt, welcher gewohnt ist, Ereignisse nur einzeln zu betrachten, vor dem Philosophen aber, dessen Auge eine lange Reihe von Ereignissen sieht und dessen Scharfsichtigkeit sich nicht durch Schwankungen irreführen lässt, zu nichts schrumpft, wenn er sich selbst den hinreichenden Weitblick gestattet, die Gesetze der Natur zu erfassen.
Wie bedeutungsvoll dieser Gedanke ist, lässt sich nicht genug betonen. Quetelet spricht der Idee des Zufalls mehr oder minder die Daseinsberechtigung ab und setzt an ihre Stelle die kühne (wenn auch nicht ganz zureichend bewiesene) Aussage, dass selbst soziale Phänomene Ursachen haben, deren Regelmäßigkeiten sich durch statistische Verfahren sichtbar machen und nutzen lassen, um die Regeln aufzudecken, nach denen das Leben innerhalb eines sozialen Gefüges abläuft.
In einem Versuch, seinen statistischen Ansatz auf den Prüfstand zu stellen, begann Quetelet ein ehrgeiziges Projekt, für das er Tausende Messungen zusammentrug, die den menschlichen Körper betrafen. So verglich er beispielsweise die statistische Verteilung des Brustumfangs bei 5738 schottischen Soldaten und die Körpergröße von 100.000 französischen Rekruten und trug für jedes einzelne Merkmal die jeweiligen Häufigkeiten in ein Diagramm ein. Mit anderen Worten: Er stellte graphisch dar, wie viele Rekruten zwischen, sagen wir, einem Meter und fünfundfünfzig und einem Meter und sechzig Zentimetern groß waren, und so weiter. Später fertigte er ähnliche Kurven für Merkmale an, die er als «moralische Eigenschaften» bezeichnete und für die er genügend Daten zur Verfügung hatte. Zu Letzteren gehörten Selbstmorde, Eheschließungen und die Veranlagung zur Kriminalität. Zu seiner Überraschung stellte Quetelet fest, dass sämtliche menschlichen Merkmale, die er betrachtete, einer Verteilung gehorchten, die wir heute als
Normalverteilung
(oder ein bisschen ungerechtfertigt nach dem «Fürsten der Mathematik» CarlFriedrich Gauß auch als
Gauß’sche Verteilung)
bezeichnen – jene wohlbekannte glockenförmige Kurve der Verteilung von Häufigkeiten (Abbildung 32). Ob es sich nun um Körpergrößen und -gewichte, Gliedmaßenlängen oder gar um intellektuelle Qualitäten (gemessen mit den damals gerade in Mode gekommenen psychologischen Tests) handelte, wieder und wieder erhielt man dieselbe Art von Kurve. Die Kurve selbst war für Quetelet nichts Neues – Mathematiker und Physiker kannten sie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, Quetelet selbst war mit ihr aus seinen astronomischen Arbeiten vertraut –, lediglich die Verbindung zwischen dieser Kurve und den Eigenschaften des Menschen war ein wenig schockierend. Bis dahin war diese Kurve nämlich vor allem als
Fehlerkurve
bekannt gewesen, weil sie die Häufigkeitsverteilung von Messfehlern aller Art widerspiegelte.
Abbildung 32
Stellen Sie sich beispielsweise vor, Sie wollten sehr genau die Temperatur einer Flüssigkeit in einem Behälter messen. Sie können ein Präzisionsthermometer verwenden und über einen Zeitraum von einer Stunde
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