Ist Gott ein Mathematiker
auch ohne vorherige Beobachtungen, allein aus der Fähigkeit der Vernunft, Zugang zu diesen Wahrheiten hat. Die ersten Anzeichen einer potentiell klaffenden Lücke zwischen der Wahrnehmung der euklidischen Geometrie als Sammlung universal gültiger Wahrheiten und anderen Zweigen der Mathematik wurde von dem irischen Philosophen George Berkeley, Bischof von Cloyne (1685–1753), erspürt. In einer Schrift mit dem Titel
The Analyst: Or a Discourse Addressed to an Infidel Mathematician
(«Der Analytiker, eine Streitschrift an den Treulosen Mathematiker», welch Letzterer vermutlich Edmond Halley sein sollte) kritisierte Berkeley die von Newton (in seinen
Principia)
und Leibniz begründeten Grundfesten der Infinitesimalrechnung. Insbesondere versuchte Berkeley zu zeigen, dass Newtons «Fluxionstheorie» – bei der es um stetige Veränderung geht – alles andere als fest definiert ist, was in seinen Augen Grund genug war, die gesamte Disziplin in Frage zu stellen:
Die Fluxionsrechnung ist der Generalschlüssel, vermittels dessen moderne Mathematiker die Geheimnisse der Geometrie und mithin auch der Natur entschlüsseln. Doch ob dieses Verfahren klar oder undurchsichtig, schlüssig oder widersprüchlich, erhellend oder unsicher ist, wie ich in höchster Unparteilichkeit zu eruieren versuchen werde, das überlasse ich Ihrem Urteil und dem jedes anderen unvoreingenommenen Lesers.
Ganz im Unrecht war Berkeley sicher nicht, und Tatsache ist, dass eine durch und durch schlüssige Theorie zur Infinitesimalrechnung erst in den 1960er Jahren formuliert worden ist. Doch die Mathematik sollte im 19. Jahrhundert eine noch sehr viel dramatischere Krise durchleben.
Kapitel 6
DER ZUKUNFTSSCHOCK DER GEOMETER
In seinem berühmt gewordenen Buch
Der Zukunftsschock
definiert der Autor Alvin Toffler den titelgebenden Begriff als «die erdrückende Belastung und vollkommene Desorientierung von Menschen, die in zu kurzer Zeit zu viele Veränderungen durchmachen müssen». Im 19. Jahrhundert erlebten Mathematiker, Naturwissenschaftler und Philosophen genau diese Art von Schock. Ja, der jahrtausendealte Glaube daran, dass die Mathematik ewige und unveränderliche Wahrheiten bereithalte, wurde mit einem Schlag zunichtegemacht. Ins Rollen kam diese unerwartete intellektuelle Revolution durch die Entdeckung neuer Arten von Geometrien, den nicht
nichteuklidischen Geometrien,
wie man sie heute nennt. Auch wenn die meisten Laien vielleicht noch nie etwas von nichteuklidischer Geometrie gehört haben mögen, so steht doch die durch diese neuen Zweige der Mathematik bewirkte Revolution des Denkens in den Augen mancher Leute den Auswirkungen der Darwin’schen Evolutionstheorie in nichts nach.
Um das ganze Ausmaß dieses dramatischen Wandels unserer Weltsicht erfassen zu können, müssen wir kurz betrachten, vor welcher historischen Kulisse dieser stattgefunden hat.
Euklidische «Wahrheit»
Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts galt: Wenn es einen Wissenszweig gab, der als Inbegriff von Wahrheit und Bestimmtheit anzusehen war, so war dies die euklidische Geometrie, jene traditionelle Geometrie, die wir alle in der Schule lernen. Es verwundert dahernicht, dass der große holländische Philosoph Baruch Spinoza (1632–1677) seinen kühnen Versuch einer Vereinigung von Wissenschaft, Religion, Ethik und Vernunft betitelte:
Ethik, nach geometrischer Methode dargestellt.
Hinzu kommt, dass die meisten Wissenschaftler trotz aller klaren Unterscheidung zwischen der idealen platonischen Welt der mathematischen Formen und der physikalischen Wirklichkeit die Objekte der euklidischen Geometrie schlicht als abstrakte Destillate ihrer realen physikalischen Gegenstücke betrachteten. Selbst eiserne Empiriker wie David Hume (1711–1776), die immer auf dem Standpunkt gestanden haben, dass die Grundfesten der Wissenschaft sehr viel weniger sicher standen als gemeinhin angenommen, waren überzeugt davon, dass die euklidische Geometrie so fest stand wie der Felsen von Gibraltar. In
Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand
unterscheidet Hume zwei Arten von «Wahrheiten»:
Alle Gegenstände der menschlichen Vernunft oder Forschung lassen sich naturgemäß in zwei Arten einteilen, nämlich in
Beziehungen zwischen Ideen
und in
Tatsachen.
Von der ersten Art sind die Wissenschaften der Geometrie, Algebra und Arithmetik; und kurz gesagt, jede Behauptung von entweder intuitiver oder demonstrativer Gewissheit. Sätze dieser Art sind durch die reine Tätigkeit des
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