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Ist Gott ein Mathematiker

Ist Gott ein Mathematiker

Titel: Ist Gott ein Mathematiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Livio
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Elemente
hatte er versucht, auf einem wohldefinierten logischen Sockel eine Geometrie aufzubauen. Er begann mit fünf Postulaten und neun Axiomen, die als unbestreitbar wahr galten, und suchte einzig und allein durch logische Schlussfolgerungen eine Vielzahl an Aussagen auf der Basis dieser Postulate zu beweisen.
    Die ersten vier euklidischen Postulate waren extrem einfach und bestechend prägnant. Das erste Postulat beispielsweise fordert: «Daß man von jedem Punkt nach jedem Punkt die Strecke ziehen kann.» Das vierte: «Daß alle rechten Winkel einander gleich sind.» Das fünfte hingegen, auch bekannt unter dem Namen «Parallelenpostulat», war in seiner Formulierung sehr viel komplizierter und lag beträchtlich weniger auf der Hand: «Und daß wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, daß innen auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte werden, dann die zwei geraden Linien bei Verlängerung ins unendliche sich treffen auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind.» Abbildung 38 verdeutlicht den Inhalt dieses Axiomsgraphisch. Zwar hat niemand die Wahrheit dieser Aussage explizit bezweifelt, doch geht ihr die bestechende Einfachheit der anderen Axiome ab. Alles deutet darauf hin, dass sogar Euklid selbst mit diesem fünften Postulat nicht ganz glücklich war – die Konstruktionsanweisungen für die ersten achtundzwanzig Propositionen der
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erwähnen es mit keinem Wort. Die heutzutage meistzitierte Version des «Fünften» erschien erstmals in den Kommentaren, die der griechische Mathematiker Proklos zu Euklids
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verfasst hat, allgemein bekannt geworden aber ist es im englischsprachigen Raum unter dem Namen «Playfair-Axiom», benannt nach dem schottischen Mathematiker John Playfair (1748–1819), andernorts wird es heute auch als Parallelenaxiom bezeichnet. Es besagt: «Durch einen Punkt P außerhalb einer Geraden G lässt sich genau eine Gerade ziehen, die durch P geht und parallel zu G verläuft» (siehe Abbildung 39). Die beiden Versionen des Axioms sind in dem Sinne äquivalent, als Playfairs Axiom (zusammen mit den anderen Axiomen) Euklids ursprüngliches Postulat zwangsläufig beinhaltet und umgekehrt.

    Abbildung 38
    Im Laufe der Jahrhunderte führte das wachsende Unbehagen am fünften Axiom zu einer Reihe erfolgloser Versuche, dieses auf der Basis der anderen neun Axiome zu beweisen oder durch ein treffenderesPostulat zu ersetzen. Als diese Bemühungen scheiterten, begannen andere Geometer, sich eine spannende «Was wäre, wenn?»-Frage zu stellen: Was, wenn sich das fünfte Axiom tatsächlich als unwahr erwiese? Einige dieser Unterfangen säten nagende Zweifel, ob Euklids Axiome wirklich so selbstverständlich wahr seien oder ob sie nicht doch auf Erfahrung basierten. Das überraschende Urteil zu dieser Frage wurde schließlich im 19. Jahrhundert gefällt: Man kann andere Arten von Geometrien schaffen, indem man ein anderes Axiom als Euklids fünftes
wählt
. Damit nicht genug, vermögen diese «nichteuklidischen» Geometrien den physikalischen Raum genauso exakt zu beschreiben wie die euklidische!

    Abbildung 39
    Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Augenblick innehalten, damit sich der Bedeutungsgehalt des Wortes «wählen» setzen kann. Jahrtausende hindurch war die euklidische Geometrie als einzigartig und unausweichlich – als die einzig wahre Beschreibung von Raum – betrachtet worden. Die Tatsache, dass man andere Axiome willkürlich festsetzen und daraus eine ebenso gültige Beschreibung erhalten konnte, stellte die Welt auf den Kopf. Das bislang so sichere, sorgsam konstruierte Deduktionsgebäude ähnelte plötzlich einem Spiel, in dem die Axiome nur noch die Rolle von Spielregeln einnahmen. Man konnte die Axiome ändern und ein ganz anderes Spiel spielen. Welche Folgen diese Erkenntnis für das Verständnis vom Wesen der Mathematik hatte, kann man nicht genug betonen.
    Eine ganze Reihe kreativer Mathematiker bereitete den Boden für diesen letzten Schlag gegen die euklidische Geometrie. Besonders erwähnenswert in dieser illustren Riege sind der Jesuitenpater Girolamo Saccheri (1667–1733), der untersuchte, was für Folgen es hat, wenn das fünfte Postulat durch eine andere Aussage ersetzt wird, unddie deutschen Mathematiker Georg Klügel (1739–1812) und Johann Heinrich Lambert (1728–1777), die als Erste erkannten, dass es andere Geometrien als die euklidische geben könnte.

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