Italienische Novellen, Band 2
führen werden, den je ein Mensch erduldet hat. In der Tat kann sich der für selig halten, der mit dem Zügel der Vernunft seine Sinne in der Gewalt hat und von entfesselten Wünschen sich nicht hinreißen läßt; und wer anders urteilt, den, glaube ich, muß man nicht einen Menschen, sondern vielmehr ein unvernünftiges Tier nennen: denn dadurch sind wir einzig und allein von den Tieren unterschieden, die alles, was sie tun, nach dem Zug ihres natürlichen Instinktes ausführen und vollziehen und in allem der Begierde folgen. Wir aber können und müssen mit dem Maße der Vernunft unsere Handlungen messen und dasjenige wählen, was uns am meisten rechtmäßig und der Gerechtigkeit entsprechend scheint. Und wenn wir manchmal vom rechten und wahren Wege abirren, so liegt die Schuld nur an uns, die wir, von einem scheinbaren falschen Vergnügen gelockt, uns von der unordentlichen Lust von dem rechten Pfad und sichern Wege entfernen lassen und dann in größter Hast köpflings in tiefe Abgründe stürzen. Ich Unglücklicher, dreimal Unglücklicher, der ich alles das einsehe und verstehe, und der ich begreife, wie jählings meine unordentliche Begierde mich von der Heerstraße abführt, ohne daß ich weiß noch imstande bin, mich zurückzuhalten und auf die wahre Bahn zurückzukehren und diesen törichten Gedanken den Rücken zuzuwenden! Ich sage: »Ich bin nicht imstande« und sollte sagen: »Ich mag nicht« oder vielmehr: »Ich möchte wohl«; aber so weit habe ich mich von meinen Leidenschaften, von meinen Begierden und meinen ungeregelten Lüsten fortreißen lassen, so sehr meinem unschicklichen Verlangen den Zügel freigegeben, daß ich ihn nicht mehr zu mir zurückfordern mag. Ich bin wie einer, der, verführt von der Annehmlichkeit, ein Wild in einem dichten Walde zu verfolgen, ihm so tief hinein nachgeht, daß er nachher den Weg zur Rückkehr nicht mehr zu finden weiß, vielmehr, je weiter er drinnen herumirrt, um so mehr sich verwickelt und vertieft und vom wahren Pfade entfernt. Wie nun auch die Sache sei, alles dies habe ich Euch darum gesagt, mein Graf, nicht, weil ich nicht meine schwere Verirrung einsehe, sondern damit Ihr erkennet, daß ich nicht mehr mein eigen bin und nicht mehr meine Freiheit in der Hand habe, und damit Ihr daher Euch meiner annehmt, erbarmt und mich bemitleidet; denn, um die Wahrheit zu gestehen, ich bin so sehr in das Netz meiner zügellosen Wünsche verwickelt, daß, wiewohl ich das Bessere sehe, ich doch nichtsdestoweniger an dem Schlechteren festklebe. Ich, ach ich Unglücklicher, ich, der ich meine Feinde zu Wasser und zu Lande so ruhmvoll besiegt, der ich dem englischen Namen durch ganz Frankreich Würde, Ehre und Furcht verschafft habe, fühle mich nun durch eine eigensinnige, ungeordnete Lust dermaßen gebunden und besiegt und niedergeworfen, daß es nicht mehr in meiner Gewalt ist, mich zu lösen und zu erheben. Dieses mein Leben, das viel eher Tod genannt werden kann, ist so von Angst und tödlicher Pein erfüllt, daß ich die Herberge aller Leiden bin und die einzige Zufluchtsstätte jegliches Elends. Und welche gültige Entschuldigung kann man für meine Verirrung finden? Gewiß, wenn sich irgendeine dafür fände, wäre sie gar schal, schwach und eitel. Nur eine einzige habe ich, daß, da ich noch jung und verwitwet bin, mir es nicht schlecht ansteht, mich in die Netze der Liebe verstricken zu lassen. Und da ich mich sehr angestrengt habe, den Zaum und Zügel meiner Lüste wieder an mich zu reißen, und all meine Bemühung eitel gewesen ist, weiß ich kein anderes Mittel mehr anzuwenden gegen meine stechende Qual, als mich Euch in die Arme zu werfen, mein lieber Graf! Ihr habt, es sei Euch gedankt, zur Zeit meines Vaters oft und viel in tausend Unternehmungen, die nicht weniger Gefahr als Ruhm brachten, und wenig später in Schottland für mich und auch in Frankreich Euer Blut freigebig dargebracht und manchmal auch verspritzt; Ihr seid, und wer weiß es besser als ich, in vielen gefährlichen Fällen mir mit dem besten Rate zu Hilfe gekommen und habt mir den rechten Weg gezeigt, um die Unternehmungen aufs leichteste zum ersehnten Ziele zu führen, und nicht ein einziges Mal habt Ihr Euch widerwillig oder müde gezeigt, mir zu dienen und zu nützen. Und warum sollte ich daher nicht von Euch in einer solchen Not alle diejenige Hilfe hoffen, die ein Mensch von dem andern erwarten kann? Wer kann mir den Dienst seiner Worte verweigern, nachdem er meinem Vorteil mit seinem
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