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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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ihren, dem Anschein nach komplizierten Gelüsten und alle
schwachen Seiten dieser grausamen und sinnlich sentimentalen Männer gefunden.
Sie bot ihnen alles an, versprach viel, gab aber wenig oder, besser gesagt,
nichts, denn die Wünsche dieser Menschen waren unersättlich, daß sie mit nichts
gesättigt werden konnten und sich am Ende mit wenigem zufriedengeben mußten.
Mit den meisten ihrer Gäste ging sie um wie mit Kranken oder mit Menschen, die
an zeitweiligen Anfällen geistiger Umnachtung leiden. Aber man kann ruhig
sagen, daß sie dennoch, trotz ihrem natürlich weder schönen noch besonders
ehrenvollen Beruf, eine verständnisvolle Frau mildtätigen Herzens und
gutmütiger Natur war, die es verstand, den zu trösten und zu unterstützen, der
beim Trunk mehr verbrauchte, als er sollte, oder bei den Karten mehr verlor,
als er durfte. Sie machte sie alle toll, denn sie waren alle toll geboren, sie
täuschte sie, denn sie wollten getäuscht werden, und schließlich nahm sie ihnen
nur das ab, was sie sowieso entschlossen waren, zu vergeuden und zu verlieren.
Sie verdiente zwar viel, achtete aber auf ihr Geld und hatte schon in den
ersten Jahren ein ganzes Vermögen angehäuft, aber sie verstand es, ebenso
großzügig und ohne Worte »eine Schuld abzuschreiben« oder einen Verlust zu vergessen.
Bettler und Kranke beschenkte sie, und mit viel Rücksicht und Sorgfalt,
unauffällig und unaufdringlich half sie in Schwierigkeit geratenen reichen
Familien, Armen und Witwen aus besseren Häusern, jener ganzen »verschämten
Armut«, die nicht zu bitten vermag und sich schämt, ein Almosen anzunehmen.
Und das tat sie mit der gleichen Kunstfertigkeit, mit der sie das Hotel leitete
und betrunkene, lüsterne und gewalttätige Gäste von sich fernhielt, denen sie
alles abnahm, was sie konnte, ohne ihnen etwas zu geben oder sie jemals völlig
und endgültig abzuweisen.
    Leute, die die Welt gesehen und die
Geschichte kannten, meinten oft, daß es um diese Frau schade sei, daß ihr das
Geschick einen so engen und untergeordneten Arbeitskreis zugedacht. Wäre sie
nicht, was sie ist, und dort, wo sie ist, wer weiß, was aus dieser klugen und
menschlichen Frau geworden wäre und was sie hätte leisten können, diese Frau,
die nicht an sich selbst dachte und die, habgierig aber selbstlos, schön und
verführerisch, aber keusch und kalt, ein Provinzhotel führte und kleinstädtischen
Lebemännern die Taschen leerte. Vielleicht wäre sie eine jener berühmten Frauen
geworden, von denen die Geschichte erzählt und die die Geschicke großer
Familien, Höfe oder Staaten leiten und stets alles zum besten wenden.
    Zu dieser Zeit, um das Jahr 1885,
als Lottika auf ihrem Höhepunkt stand, gab es genug Söhne reicher Eltern, die
Tage und Nächte im Hotel verbrachten, in diesem Extrazimmer mit den
Milchglastüren. Dort dösten sie am Spätnachmittag neben dem Ofen, noch müde und
verkatert von der vergangenen Nacht, und vergaßen vor Schläfrigkeit und
Ermüdung, wo sie waren, warum sie dort saßen und auf wen sie warteten. Diese
Ruhe ausnützend, zog sich Lottika dann in ein kleines Zimmer oben im ersten
Stock zurück, das für die Angestellten gedacht war, aus dem sie aber ihr »Büro«
gemacht hatte und in das sie niemand einließ. Dieses enge Zimmer war mit allem
möglichen Mobiliar, Photographien und Gold-, Silber- und Kristallgegenständen
vollgestopft. Hier stand, verborgen hinter einer Gardine, Lottikas grüne
Stahlkasse und ihr kleiner Schreibtisch, der vor Papier, Vorladungen,
Quittungen, Rechnungen, deutschen Zeitungen, Ausschnitten der Börsenkurse und
Ziehungslisten der Lotterien kaum zu sehen war.
    In diesem engen, überfüllten und dumpfen
Zimmerchen, dessen einziges Fenster kleiner war als die anderen im Hause und
aus der Nähe gerade auf den ersten und engsten Brückenbogen blickte, verbrachte
Lottika ihre freien Stunden und lebte jenen anderen, versteckten Teil ihres
Lebens, der ihr gehörte.
    Hier las Lottika in den Stunden
abgestohlener Freiheit die Börsenberichte und studierte Prospekte, ordnete ihre
Rechnungen, antwortete auf die Briefe der Banken, fällte Entscheidungen, gab
Aufträge, verfügte über das eingezahlte Geld und schickte neue Einzahlungen.
Dies war eine, denen unten und der ganzen Welt unbekannte Seite von Lottikas
Tätigkeit – der unsichtbare und wahre Teil ihres Lebens. Hier warf sie ihre
lächelnde Maske ab, ihr Gesicht wurde hart und ihr Blick scharf und finster. Aus
diesem Zimmer führte sie den

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