Ivo Andric
vollendeten oder von der zu
sprechen, die ihr noch bevorstand. Und neben allem fand sie in ihrer
Zeiteinteilung täglich immer wenigstens eine Stunde für Alibeg Paschitsch. Das
war der einzige Mensch, von dem man in der Stadt annahm, daß es ihm gelungen
sei, Lottikas Zuneigung wirklich und unabhängig von jeder Berechnung zu erwerben.
Aber das war zugleich auch der zurückhaltendste und schweigsamste Mann in der
Stadt. Der älteste der vier Brüder Paschitsch hatte nicht geheiratet – in der
Stadt glaubte man, auch das sei wegen Lottika –, er betätigte sich nicht in Geschäften
und nahm nicht teil am öffentlichen Leben der Stadt. Er betrank sich nicht und
trieb sich nicht mit seinen Altersgenossen umher. Immer war er in gleicher
Stimmung, gleich sympathisch und gleich gesellig zu allen ohne Unterschied. Er
war still und zurückhaltend, aber er floh weder die Geselligkeit noch das
Gespräch; dennoch erinnerte sich niemand, jemals seine persönliche Meinung
gehört zu haben, noch wiederholte man etwas, was er gesagt hatte. Er war sich
selbst genug und vollkommen zufrieden mit dem, was er war und was er in den
Augen anderer bedeutete. Er selbst empfand nicht das Bedürfnis, irgend etwas
darzustellen oder nach etwas anderem auszusehen, als was er war, und niemand
kam auf den Gedanken, von ihm etwas anderes zu erwarten oder zu fordern. Er war
einer jener Menschen, die ihre innere Würde wie einen schweren und edlen Beruf
tragen, der ihr Leben ausfüllt; ein angeborener, großer und würdiger Adel, der
seine Rechtfertigung nur in sich selbst trägt und sich weder erklären noch
absprechen oder nachahmen läßt.
Mit den Gästen aus dem großen Saal
hatte Lottika wenig Arbeit. Das war Sache der Kellnerin Maltschika und des
»Zahlkellners« Gustav. Maltschika war eine in der ganzen Stadt bekannte,
betuliche Ungarin, die aussah, als sei sie die Frau irgendeines
Raubtierbändigers, und Gustav war ein rothaariger Deutschtscheche, jähzorniger
Natur, mit entzündeten Augen, X-Beinen und Plattfüßen. Sie kannten alle Gäste
und alle Städter überhaupt, sie wußten, wie jeder zahlt, wie er im Trunk war,
sie wußten, wen man kühl empfangen, wen herzlich begrüßen und wen man überhaupt
nicht einlassen durfte, denn »er paßt nicht in das Hotel«. Sie achteten darauf,
daß viel getrunken und ordentlich bezahlt wurde, daß aber alles reibungslos und
schön verlief, denn Lottikas Wahlspruch war: »Nur kein Skandal!« Geschah es
dennoch einmal ausnahmsweise, daß irgend jemand unerwartet im Trunk rabiat
wurde oder, nachdem er sich in anderen, schlechteren Lokalen bereits betrunken,
mit Gewalt in das Hotel eindrang, dann erschien der Hausknecht Milan, ein
großer, breitschultriger und derbknochiger, aus Litscha zugewanderter Mann,
mit Riesenkräften, der wenig sprach und alle Arbeiten verrichtete. Er war immer
vorschriftsmäßig als Hausknecht angezogen (denn darauf achtete Lottika). Er
ging immer ohne Jacke, in brauner Weste und weißem Hemd, mit einer langen,
grünen Tuchschürze, sommers wie winters aufgekrempelten Ärmeln, daß man seine
gewaltigen Unterarme, behaart und schwarz wie zwei große Bürsten, sah. Den
Schnurrbart trug er aufgezwirbelt und das schwarze Haar steif von einer stark
riechenden Soldatenpomade. Milan erstickte jeden Skandal bereits im Keime.
Diese unangenehme und unerwünschte
Operation vollzieht sich nach einer seit langem festgelegten und geheiligten
Tradition. Gustav redet dem rabiaten und unerwünschten Gast zu, bis sich ihm
Milan von hinten genähert hat, dann tritt der Zahlkellner plötzlich zur Seite,
und der Hausknecht faßt den Betrunkenen von hinten, mit einer Hand beim Gürtel
und mit der anderen bei der Jacke, und das so geschickt und so schnell, daß
noch niemand je erkannt hat, worin eigentlich Milans »Griff« besteht. Dann
fliegt auch der stärkste Saufbold wie eine Puppe aus Lumpen und Stroh zur Tür,
die Maltschika schon im richtigen Augenblick geöffnet hat, und durch die Tür
geradeswegs auf die Straße. Gustav wirft ihm im gleichen Augenblick seine Kopfbedeckung,
Stock oder sonstigen Sachen nach, und Milan zieht mit der ganzen Schwere seines
Körpers laut rasselnd die eisernen Rolladen an der Tür herunter. Alles das
vollzieht sich im Handumdrehen, verabredet und reibungslos, und, bis sich die
Gäste umdrehen, sitzt der unerwünschte Besucher bereits auf der Straße und
kann, wenn er schon ganz außer Rand und Band ist, nur noch mit dem Messer nach
den Rolladen stoßen oder
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