Ivo Andric
Träger der neuen Macht, sowohl die
militärischen als auch die zivilen, waren in ihrer Mehrzahl dem Lande fremd,
dem Volk unbekannt und an und für sich unbedeutend, aber auf Schritt und Tritt
fühlte man, daß sie kleine Rädchen eines großen Mechanismus waren und daß
hinter jedem einzelnen von ihnen in langen Reihen und zahllosen Stufen
mächtigere Männer und höhere Behörden standen. Dies verlieh ihnen ein Ansehen,
das bei weitem ihre Persönlichkeit überragte, und einen magischen Einfluß, dem
man leicht unterlag. Durch ihr Wissen, das hier groß erschien, durch ihre Ruhe
und ihre europäischen Gewohnheiten flößten sie dem Volke, von dem sie sich so
sehr unterschieden, Vertrauen und Respekt ein, ohne Neid oder wirkliche Kritik
hervorzurufen, auch wenn sie weder angenehm noch beliebt waren.
Aber auch diese Fremden konnten sich
nach einer gewissen Zeit nicht völlig dem Einfluß der ungewöhnlich
orientalischen Umwelt entziehen, in der sie leben mußten. Ihre Kinder brachten
neue Ausdrücke und fremde Namen unter die Stadtkinder, führten unter der Brücke
neue Spiele ein und zeigten neues Spielzeug, ebenso schnell aber übernahmen sie
von den einheimischen Kindernunsere Lieder, Redensarten, Reime und die uralten
Spiele, Andschais, Klis und Schuda 20 .
Ähnlich ging es auch mit den Erwachsenen. Auch sie brachten eine neue Ordnung
mit ungewöhnlichen Worten und Gewohnheiten, übernahmen aber gleichzeitig selbst
mit jedem Tage etwas von der Ausdrucksweise und Lebensform der
Alteingesessenen. Unser Volk, besonders die Christen und Juden, begann zwar in
Kleidung und Gebärden den Fremden, die die Besatzung hergeführt hatte, immer
ähnlicher zu werden, aber auch die Fremden blieben von der Umgebung, in der
sie leben mußten, nicht unberührt und unverändert. Mancher dieser Beamten, ein
regsamer Ungar oder stolzer Pole, überschritt voller Besorgnis diese Brücke und
betrat mit Abneigung die Stadt, in der er sich zu Anfang von allem abhob wie
ein Tropfen Öles, der auf dem Wasser schwimmt. Aber schon ein paar Jahre später
saß er stundenlang auf der Kapija, rauchte aus einer dicken Bernsteinspitze und
schaute wie ein echter Wischegrader, wie sich der Rauch unter dem lichten Himmel
in der reglosen Luft der Dämmerung verteilte und verlor. Oder er verbrachte den
Abend mit unserem Hausherrn und Beg beim Akschamluk, der Abendunterhaltung, mit
einem Strauß Basilikum vor sich und bei langsamer Unterhaltung ohne schweren
und besonderen Sinn, trank langsam und aß mäßig dazu, wie es eben nur die
Wischegrader verstehen. Und mancher dieser Fremden, Beamten und Handwerker
verheiratete sich auch in der Stadt und war entschlossen, sie nicht wieder zu
verlassen.
Für niemanden unter den Städtern
bedeutete das neue Leben die Verwirklichung dessen, was sie in ihrer Seele
trugen und seit jeher wünschten; im Gegenteil, Mohammedaner und Christen traten
ihm mit vielgestalteten und absoluten Vorbehalten entgegen, doch diese
Reserven waren geheim und verborgen, das Leben aber sichtbar und mächtig, mit
neuen, dem Anschein nach großen Möglichkeiten. Und nach kürzerem oder längerem
Sträuben überließen sich die meisten der neuen Strömung, trieben Handel,
erwarben und lebten nach den neuen Auffassungen und Formen, die der
Persönlichkeit des Einzelmenschen mehr Aufschwung gaben und mehr Aussichten
boten.
Das neue Leben war zwar nicht
weniger bedingt und gebunden als das alte unter den Türken, nur war es
leichter und menschlicher, und diese Bedingungen und Bindungen waren jetzt fern
und kunstvoll miteinander verknüpft, daß sie der einzelne nicht unmittelbar
fühlte. Daher erschien es jedem, als sei es um ihn plötzlich weiter und
luftiger, vielfältiger und reicher geworden.
Dem neuen Staat gelang es, mit
seinem guten Verwaltungsapparat auf schmerzlose Art, ohne Gewalt und
Erschütterung aus dem Volke die Steuern und Abgaben herauszupressen, die ihm
die türkische Herrschaft mit unvernünftigen, groben Methoden oder glattem Raub
abgenommen hatte, und zwar nicht nur genauso viel, sondern mehr noch, schneller
und sicherer.
So wie seinerzeit dem Militär die
Gendarmerie und ihr die Beamten folgten, so kamen jetzt nach den Beamten die
Kaufleute. Es kamen auch der Holzschlag und mit ihm fremde Unternehmer,
Ingenieure und Arbeiter und allerhand Verdienst für die kleinen Leute und die
Händler, neue Gewohnheiten und Änderungen in Sprache und Tracht unter dem
Volk. Das erste Ho tel wurde gebaut, von dem noch die Rede sein
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