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Ivo Andric

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Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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wird. Kantinen
und Geschäfte, von denen man bisher nichts gewußt hatte, schossen auf. Neben
den spanischen Juden, den Sepharden, die schon seit Jahrhunderten hier lebten,
denn sie hatten sich etwa zur selben Zeit angesiedelt, wie die Brücke über die
Drina gebaut wurde, erschienen nun auch die galizischen Juden, die Aschkenasen.
    Wie frisches Blut begann das Geld in
bisher ungesehenen Mengen umzulaufen und, was die Hauptsache war, öffentlich,
kühn und offen. An diesem erregenden Umlauf in Gold, Silber und wertbeständigen
Papieren konnte sich ein jeder die Hände wärmen oder sich wenigstens
»sattsehen«, denn er rief auch beim ärmsten Menschen die Illusion hervor, daß
sein Mangel nur vorübergehend und daher erträglich sei.
    Auch früher gab es Geld und reiche
Leute, aber dies waren nur wenige Menschen, und auch sie verbargen ihr Geld wie
die Schlange ihre Füße und zeigten und trugen ihr Herrentum nur als Macht und
Verteidigung, schwer für sie selbst wie für ihre Umgebung. Jetzt aber war der
Reichtum, oder was man als solchen ansah und so bezeichnete, öffentlich und
zeigte sich immer mehr im Genuß und in persönlicher Befriedigung; und daher
konnte die Menge des Volkes etwas von seinem Glanz oder seinen Abfällen
erhalten.
    So war es auch in allem übrigen.
Jede Befriedigung, die man bis dahin stehlen und verhehlen mußte, konnte man
nun kaufen und öffentlich zeigen, was auch ihre Anziehungskraft und die Zahl
jener vergrößerte, die sie suchten. Was früher unerreichbar, fern, teuer,
verboten durch Gesetze oder allmächtige Rücksichten gewesen, das wurde jetzt in
vielen Fällen jedem möglich und zugänglich, der die Mittel oder den Verstand
dazu besaß. Viele Leidenschaften, Neigungen und Gelüste, die bisher an versteckten
Orten verborgen wurden oder überhaupt unbefriedigt blieben, konnten und
durften nun öffentlich volle oder wenigstens teilweise Befriedigung suchen. In
Wirklichkeit lag auch darin mehr Zwang, Ordnung und gesetzliche Einschränkungen;
Laster wurden bestraft, und Befriedigung wurde bezahlt, schwerer und teurer
als einst, nur waren die Gesetze und Formen andere und ließen den Menschen auch
hierin, wie in allem übrigen, die Illusion, daß das Leben auf einmal weiter,
üppiger und freier geworden sei.
    Es gab nicht viel mehr wirkliche
Befriedigung und erst recht nicht viel mehr Glück als einst, aber es war
zweifellos leichter, zur Befriedigung zu gelangen, und es schien, als sei
überall und für jeden die Möglichkeit da, glücklich zu werden. Die alte und
eingeborene Neigung der Wischegrader zu sorglosem Leben und Genuß fand
Aufschwung und Möglichkeiten der Erfüllung in den neuen Gewohnheiten und neuen
Formen des Handels und des Verdienstes der zugewanderten Fremden. Die
polnischen Juden, die sich mit ihren zahlreichen Familien niedergelassen hatten,
gründeten ihre ganze Arbeit darauf. Schreiber hatte einen Laden, der sich
»Gemischtwarenhandlung« oder »Spezerei« nannte, Gutenplan eröffnete eine
Militärakademie, Zahler führte ein Hotel, die Sperling eröffneten eine
Selterwasserfabrik und ein photographisches »Atelier« und Zwecher ein Juwelier-
und Uhrmachergeschäft.
    Nach der Kaserne, die den Steinernen
Chan ersetzte, wurde aus den übriggebliebenen Steinen ein Amtsgebäude errichtet
und in ihm die Kreisverwaltung und das Gericht untergebracht. Nach ihnen war
Zahlers Hotel das größte Gebäude in der Stadt. Das Hotel stand am Ufer,
unmittelbar neben der Brücke. Dieses rechte Flußufer war mit einer alten Mauer
befestigt, die das Ufer zu beiden Seiten der Brücke abstützte und zur gleichen
Zeit mit der Brücke selbst errichtet worden war. Rechts und links der Brücke
waren zwei Flächen, wie zwei Terrassen, über dem Wasser entstanden. Auf diesen
Brachflächen, die das Volk Musale, Spielplätze, nannte, vergnügten sich
von Generation zu Generation die Stadtkinder. Nun übernahm die Stadtverwaltung
die linke Seite, zäunte das Brachland ein, pflanzte auf ihm Bäu me und
Gesträuch an und machte daraus eine Art Bezirksgärtnerei. Auf der rechten
Fläche aber wurde das Hotel erbaut. Bisher war das erste Gebäude am Eingang
zur Stadt Zarijas Schenke gewesen. Sie lag »am Wege«, so daß der müde und
durstige Reisende, wenn er, über die Brücke kommend, die Stadt betrat, auf sie
stoßen mußte. Jetzt war sie völlig beschattet von dem großen Gebäude des neuen
Hotels; die niedrige und alte Schenke sah mit jedem Tag niedriger und
zwerghafter aus, gerade als

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