Ivo Andric
Briefwechsel mit ihrer zahlreichen Verwandtschaft,
den Apfelmaier in Tarnow, mit den verheirateten Schwestern und Brüdern und
zahlreichen Vettern und Basen, lauter blutarmen, ostgalizischen Juden, die über
ganz Galizien, Österreich und Ungarn verstreut lebten. Sie leitete die
Geschicke von einem ganzen Dutzend jüdischer Familien, griff in ihr Leben bis
in die kleinsten Einzelheiten ein, bestimmte Heiraten, schickte Kinder auf die
Schule oder ließ sie ein Handwerk lernen, sandte Kranke zur Behandlung,
ermahnte und schalt Arbeitsscheue und Verschwender und lobte Sparsame und
Unternehmungslustige. Sie schlichtete ihre Familienstreitigkeiten, beriet bei
Uneinigkeit und Unschlüssigkeit; sie wies alle auf einen vernünftigeren, besseren
und würdigeren Lebensweg und ermöglichte und erleichterte ihnen gleichzeitig
ein solches Leben. Denn mit jedem ihrer Briefe ging auch eine Postanweisung mit
einem Geldbetrag ab, der es ermöglichen sollte, auf ihren Rat zu hören und ihre
Empfehlungen auszuführen, irgendein seelisches oder körperliches Bedürfnis zu
befriedigen oder eine Not zu beseitigen. (In dieser Förderung der ganzen
Familie und darin, daß sie sich bemühte, jedes einzelne Familienglied auf den
rechten Weg zu bringen, fand sie ihre einzige wahre Befriedigung und
Entschädigung für alle Lasten und Verzichte ihres Lebens. Mit jedem weiblichen
oder männlichen Mitglied der Familie Apfelmaier, das auf der
gesellschaftlichen Stufenleiter wenigstens um eine Sprosse stieg, hob sich
auch Lottika, und darin fand sie die Entschädigung für ihre schwere Arbeit
und die Kraft zu weiteren Anstrengungen.)
Manchmal aber kam sie von unten aus
dem »Extrazimmer« so übermüdet und angewidert herauf, daß sie weder die Kraft
fand zu schreiben noch Briefe und Rechnungen zu lesen, sondern nur zum kleinen
Fenster ging, um sich an der frischen Luft über dem Fluß sattzuatmen, einer
anderen Luft als jener da unten. Ihr Blick fiel dann auf den mächtigen und
schlanken Bogen, der das ganze Blickfeld abschloß, und auf das schnelle Wasser
unter ihm. In der Sonne, in der Dämmerung, im winterlichen Mondschein oder im
milden Sternenlicht, immer war er der gleiche. Seine beiden Seiten strebten
zueinander hin, vereinigten sich in einer scharfen Spitze und stützten sich
gegenseitig in vollendetem und unerschütterlichem Gleichgewicht. Mit den
Jahren war das ihr einziger und vertrautester Ausblick geworden, der stumme
Zeuge, an den sich diese Jüdin mit den zwei Gesichtern in jenen Augenblicken
wandte, wenn sie Ruhe und Frische brauchte oder in ihren Geschäften und
Familiensorgen auf einen toten Punkt oder an eine ausweglose Stelle gekommen
war.
Aber die Augenblicke der Entspannung
dauerten nie lange, denn gewöhnlich wurden sie durch Rufe von unten aus dem Lokal
unterbrochen. Dort forderten entweder neue Gäste ihre Anwesenheit, oder ein
erwachter und wieder nüchtern gewordener Trinker verlangte neue Getränke, man
solle die Lampen anzün den, Musik herbeischaffen und Lottika holen. Dann
verließ sie ihr Versteck und ging, nachdem sie die Tür sorgfältig mit einem
besonderen Schlüssel abgeschlossen, hinunter, um den Gast zu begrüßen oder mit
ihrem Lächeln und ihrer besonderen Sprache den Betrunkenen wie ein
wachgewordenes Kind zu beruhigen und ihn zu veranlassen, sich wieder an den
Tisch zu setzen, an dem eine neue nächtliche Sitzung mit Trinken, Unterhaltung,
Gesang und Geldausgeben beginnen würde.
Denn da unten war in ihrer
Abwesenheit alles schief gegangen. Die Gäste sind in Streit geraten. Ein Beg
aus Crntsche, jung, bleich, mit stierem Blick, verschüttet jedes Getränk, das
sie ihm bringen, findet an allem etwas auszusetzen und sucht Zank mit dem
Personal oder den Gästen. Mit kurzen Unterbrechungen trinkt er schon tagelang
im Hotel, seufzt nach Lottika, trinkt aber soviel und seufzt so tief, daß ihn
dazu ein tieferes, viel größeres und ihm selbst unbekanntes Leid treiben muß,
als es die unerhörte Liebe und grundlose Eifersucht gegenüber der schönen
Jüdin aus Tarnow ist.
Lottika tritt furchtlos, leicht und
natürlich an ihn heran.
»Was ist denn, Ejub? Was schreist du
denn so, mein Junge?«
»Wo steckst du? Ich will wissen, wo
du steckst!« lallt der Betrunkene mit milderer Stimme und blickt sie blinzelnd
wie eine Erscheinung an. »Hier geben sie mir irgendein Gift zu trinken. Sie
vergiften mich, sie vergiften mich, aber die wissen nicht, daß ich ..., wenn
ich ...«
»Setz dich, setz dich«, beruhigt
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