Ivo Andric
fortgeschritten,
die Blätter gefallen, die Wege vom Regen aufgeweicht, die Drina gestiegen und
trübe und die kahlen Stoppelfelder voll träger Krähen. Aber Abidaga stellte
die Arbeiten nicht ein. In der spärlichen Novembersonne schleppten die Bauern
Holz und Steine, patschten mit bloßen Füßen oder groben Opanken in den
aufgeweichten Wegen, schwitzten vor Anstrengung oder froren im Wind, zogen ihre
schweren wollenen Pluderhosen voll neuer Löcher und alter Flicke fester um sich
und banden die zerrissenen Enden ihres einzigen Hemdes aus grobem Leinen, das
von Regen, Schlamm und Rauch schwarz war, fester, aber sie durften es nicht
waschen, denn es würde im Wasser in lauter kleine Fasern zerfallen. Ober allem
schwebte Abidagas grüner Stab, denn Abidaga ging die Steinbrüche in Banja und
alle Arbeiten um die Brücke ab, und das ein paar Male am Tage. Er war wütend
und verbittert gegen alle Welt, weil die Tage kürzer wurden und die Arbeit
nicht so schnell fortschritt, wie er es wünschen mochte. Im schweren Oberrock
aus russischem Pelz und hohen Stiefeln, das Gesicht krebsrot, stieg er auf den
Gerüsten der Pfeiler herum, die sich schon über dem Wasser erhoben, ging in die
Schmieden, Magazine und Arbeiterhütten und fiel über alle der Reihe nachher.
»Kurz sind die Tage. Immer kürzer!
Ihr Hundesöhne glaubt wohl, ihr könnt euer Brot umsonst essen!«
So schrie er sie an, als seien sie
schuld daran, daß es so spät Tag wird und so früh dunkelt. Aber wenn die
Dämmerung, die unerbittliche und hoffnungslose Wischegrader Dämmerung, hereinbrach,
wenn die steilen Berge die Stadt enger einschlossen und die Nacht schnell
herabsank, schwer und dumpf, als wäre es die letzte, dann stieg Abidagas Wut
aufs höchste; und da er niemanden mehr hatte, an dem er sie auslassen konnte,
fraß er sie in sich hinein und konnte nicht schlafen vor lauter Gedanken an
die viele Arbeit, die ruhte, und an das viele Volk, das herumlungerte und den
Tag stahl. Er knirschte mit den Zähnen. Er rief die Aufseher zusammen und
rechnete aus, wie man, von morgen an, den Tag besser verwenden und die
Arbeitskräfte stärker ausnützen könnte.
Währenddessen schläft das Volk in
den Hütten und Schuppen, es ruht sich aus und sammelt neue Kräfte. Aber es
schlafen nicht alle; auch sie verstehen wachzubleiben in ihrem Interesse und
auf eigene Art. In einem geräumigen und trockenen Schuppen brennt in der Mitte
ein Feuer, fast ist es am Verlöschen, denn nur die Glut ist geblieben, die im
halbdunklen Raum zuckt. Der ganze Raum ist von Rauch erfüllt, vom säuerlichen,
schweren Geruch feuchter Kleider und Opanken und den Ausdünstungen von dreißig
menschlichen Körpern. Sie alle sind Fronarbeiter, Bauern aus der Umgebung,
hörige Dorfarmut. Alle sind voller Straßenkot, verregnet, übermüdet und voller
Sorgen. Diese unbezahlte und aussichtslose Fronarbeit verzehrt sie, während
ihre Äcker, oben in den Dörfern, vergeblich auf die Herbstbestellung warten.
Die meisten sind noch wach. Sie trocknen ihre Fußlappen am Feuer, flicken ihre
Opanken oder sehen einfach in die Glut. Unter ihnen hat sich von irgendwoher
ein Montenegriner eingefunden, die Sejmen ergriffen ihn auf der Landstraße, und
nun front er schon einige Tage, auch wenn er unaufhörlich jedem erzählt und
beweist, daß dies alles für ihn sehr schwer und un ziemlich sei und seine Ehre
eine solche Zwangsarbeit nicht ertrage. Jetzt hat sich der größte Teil der
wachenden Bauern, besonders die jüngeren, um ihn gesammelt. Aus der tiefen
Tasche seiner grauen Joppe zieht er eine Gusla, unansehnlich und klein wie ein
Handteller, und einen kurzen Bogen. Einer der Bauern geht vor den Schuppen und
wacht, daß niemand von den Türken dazukommt. Alle sehen den Montenegriner an,
als erblickten sie ihn jetzt zum ersten Male, und die Gusla, die in seinen
großen Händen verschwindet. Er beugt sich hinab, die Gusla ruht in seinem
Schoß, und den Kopf der Gusla verdeckt er mit seinem Kinn; mit Harz reibt er
die Saiten ein und haucht auf den Geigenbogen: alles ist feucht und trieft.
Und während er alle diese kleinen Handgriffe vornimmt, selbstbewußt und ruhig,
als sei er allein auf dieser Welt, starren sie ihn unverwandt an. Schließlich
erklingt der erste Ton, schrill und ungleichmäßig. Die Unruhe wächst. Der
Montenegriner setzt sich zurecht und läßt seine nasale Stimme mit dem Ton der
Gusla zusammenklingen. Alles stimmt überein, und alles kündet eine wundersame
Erzählung an. Und nachdem
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