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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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abgenommen
worden ist, dann sind alle diese Bauwerke nur Brosamen. Wenn wir aber einmal
unsere nationale Freiheit und Selbständigkeit erwerben, dann werden unser Geld
und unser Blut nur für uns da sein und bei uns verbleiben. Alles wird einzig
und allein für den Aufbau einer nationalen Kultur da sein, die unser Siegel
und unseren Namen trägt und das Glück und den Wohlstand der breitesten
Schichten unseres Volkes vor Augen haben wird.«
    Bachtijarewitsch schwieg, und dieses
Schweigen forderte Galus heraus, als sei es der lebhafteste und beredteste
Widerstand, und trieb ihn dazu, diese Note noch zu verstärken und zu verschärfen.
Mit der ihm angeborenen Lebhaftigkeit und dem Wortschatz, der damals in der
nationalen Jugendliteratur herrschte, zählte er die Pläne und Aufgaben der
revolutionären Jugend auf. Alle lebendigen Kräfte der Rasse würden geweckt und
in Tätigkeit gesetzt werden. Unter ihren Schlägen würde die österreichisch-ungarische
Monarchie, dieser Kerker der Völker, ebenso zerfallen, wie die europäische
Türkei zerfallen sei. Alle antinationalen und reaktionären Mächte, die heute
unsere nationalen Kräfte fesselten, spalteten und einschläferten, würden
besiegt und verdrängt werden. Alles dies würde durchführbar sein, denn der
Geist der Zeit, in der sie lebten, sei ihr bester Verbündeter und auch die
Anstrengungen der anderen kleinen und versklavten Völker seien mit ihnen. Der
neuzeitliche Nationalismus werde über konfessionelle Unterschiede und
veraltete Vorurteile triumphieren und das Volk von fremden, volksfeindlichen
Einflüssen und fremder Ausbeutung befreien. Und dann würde der nationale Staat
geboren werden.
    Galus beschrieb danach die Vorteile
und Schönheiten dieses neuen Nationalstaates, der um Serbien wie um Piemont
alle Südslawen auf der Grundlage völliger Gleichberechtigung der Stämme,
religiöser Duldsamkeit und staatsbürgerlicher Gleichheit sammeln würde. In
seiner Rede mischten sich kühne Worte unklarer Bedeutung mit Ausdrücken, die
genau die Bedürfnisse des zeitgenössischen Lebens aussprachen; die tiefsten
Wünsche der Völker, denen es meist bestimmt ist, nur Wünsche zu bleiben, mit
den berechtigten und erreichbaren Forderungen der Alltagswirklichkeit; große
Wahrheiten, die in Generationen heranreifen, die aber nur von der Jugend im
voraus empfunden und ausgesprochen werden können und dürfen, mit den ewigen Illusionen,
die nie erlöschen, aber auch nie zur Verwirklichung gelangen, denn ein
Geschlecht der Jugend übergibt sie dem anderen wie jene mythologische Fackel.
In der Rede des Jünglings waren natürlich viele Behauptungen, die der Kritik
der Wirklichkeit nicht standgehalten, und viele Voraussetzungen, die
vielleicht die Probe der Erfahrung nicht überstanden hätten, es war in ihr aber
auch etwas von jenem frischen Hauch und wertvollen Saft, mit dem sich der Stamm
der Menschheit erhält und verjüngt.
    Bachtijarewitsch schwieg.
    »Du wirst sehen, Fehim«, versicherte
der hingerissene Galus seinem Freunde, als sei das eine Angelegenheit dieser
Nacht oder des morgigen Tages, »du wirst sehen, wir gründen einen Staat, der
der wertvollste Beitrag zum Fortschritt der Menschheit sein wird, in dem jede
Mühe gesegnet, jedes Opfer heilig, jeder Gedanke eigenwüchsig, getragen durch
unsere Sprache und jedes Werk mit dem Siegel unseres Namens gezeichnet sein
wird. Dann werden wir Werke schaffen, die das Ergebnis unserer freien Arbeit
und Ausdruck unseres Rassengenius sein werden, Werke, denen gegenüber alles,
was in den Jahrhunderten der Fremdherrschaft geleistet wurde, wie kleinliche
Spielerei erscheinen wird. Wir werden breitere Flüsse und tiefere Abgründe
überbrücken. Wir werden neue, größere und bessere Brücken bauen, und sie werden
nicht fremde Zentren mit unterjochten Provinzen, sondern unsere Gebiete
untereinander und unseren Staat mit der ganzen übrigen Welt verbinden. Denn,
daran besteht kein Zweifel mehr, uns ist es bestimmt, das zu verwirklichen,
wonach alle Generationen vor uns strebten: den Staat, in Freiheit geboren und
auf Gerechtigkeit gegründet, als einen Teil des auf Erden verwirklichten
göttlichen Willens.«
    Bachtijarewitsch schwieg. Aber auch
Galus' Stimme begann nachzulassen. So, wie sich seine Rede mit ihrem Sinn hob,
so wurde auch seine Stimme immer leiser und undeutlicher, verwandelte sich in
ein starkes und leidenschaftliches Flüstern und verlor sich schließlich in der
großen Stille der Nacht. Nun schwiegen beide.

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