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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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und unermüdlicher Leser. Die Hauptlektüre der damaligen
jungen Menschen auf dem Gymnasium in Sarajewo in fremder Sprache waren die
Ausgaben des bekannten und großen deutschen Verlagshauses Reclam. Diese
kleinen, billigen Heftchen mit gelbem Umschlag und außergewöhnlich kleinem
Druck bildeten die wichtigste Geistesnahrung, die den Schülern dieser Zeit
zugänglich war; aus ihr konnten sie nicht nur die deutsche Literatur, sondern
auch alle größeren Werke der Weltliteratur in deutscher Übersetzung
kennenlernen. Aus ihnen schöpfte auch Galus seine Kenntnisse der modernen deutschen
Philosophen, besonders Nietzsches und Stirners, und konnte auf Spaziergängen an
der Miljatzka über sie mit einer kühlen und heiteren Leidenschaft endlose
Diskussionen führen, ohne auch nur im geringsten seine Kenntnisse, wie es sonst
junge Menschen oft tun, mit seinem persönlichen Leben zu vermischen. Der Typ
des frühreifen und mit dem verschiedenartigsten, aber ungeordneten und
chaotischen Wissen überlasteten Abiturienten, war unter den damaligen Gymnasiasten
nicht selten. Als sittsamer junger Mensch und guter Schüler kannte Galus die
Freiheit und Unbändigkeit der Jugend nur in der Kühnheit der Gedanken und den
Übertreibungen der Lektüre.
    Fechim Bachtijarewitsch stammte nur
mütterlicherseits aus der Stadt. Sein Vater war aus Rogatitza und war auch
jetzt dort als Kadi tätig, seine Mutter aber stammte aus der großen hiesigen
Familie der Osmanagitsch. Seit frühester Kindheit verbrachte er einen Teil der
Sommerferien mit der Mutter bei deren Angehörigen in der Stadt. Er war ein
schlanker Jüngling mit grazilen, gerundeten Formen, mit zarten, aber starken
Gelenken. An ihm war alles gemessen, beherrscht und gedämpft. Das feine Oval
seines Gesichtes war wie gebranntes Email, die Haut braun, mit einem leichten
Übergang ins Dunkelblaue; seine Bewegungen waren kurz und knapp; die Augen
schwarz, das Weiße in ihnen leicht blau überschattet, der Blick warm, aber ohne
Glanz; er hatte starke, zusammengewachsene Augenbrauen und einen leichten
schwarzen Bartflaum auf der geschwungenen Oberlippe. Auf persischen Miniaturen
findet man solche Gesichter.
    Auch er hatte in diesem Sommer sein
Abitur bestanden und wartete jetzt auf ein Staatsstipendium, um in Wien
orientalische Sprachen zu studieren.
    Diese beiden jungen Menschen setzten
irgendein früher begonnenes Gespräch fort. Es war die Rede vom Studium, das
Bachtijarewitsch wählen wollte. Galus bewies ihm, daß er einen Fehler begehe,
wenn er Orientalistik wähle. Überhaupt redete Galus viel mehr und lebhafter,
denn er war es gewohnt, daß man ihm zuhörte, und er dozierte gern, während
Bachtijarewitsch kurz und wenig sprach, wie ein Mensch, der seine feste Oberzeugung
besitzt und nicht das Bedürfnis hat, einen anderen zu überzeugen. Galus
sprach, wie die meisten jungen und belesenen Menschen, mit jener naiven Freude
am Wort, an bildhaften Ausdrücken und Vergleichen und mit einer Neigung zum
Verallgemeinern, Bachtijarewitsch dagegen trocken, kurz, fast nachlässig.
    Versteckt im Schatten und
zurückgelehnt auf den steinernen Sitzen, schwiegen Stikowitsch und Glasintschanin,
als hätten sie sich ohne Worte verständigt, unbemerkt dem Gespräch der beiden
Kameraden auf der Brücke zu lauschen.
    Die Diskussion über das Studium
abschließend, sagte Galus feurig:
    »Hier irrt ihr Mohammedaner aus den
feudalen Familien häufig. Verwirrt durch die neuen Zeiten, habt ihr das
richtige und vollständige Gefühl für euren Platz verloren. Eure Liebe zu allem, was orientalisch, ist nur ein moderner Ausdruck eures < Willens zur
Macht > ; für euch sind die östlichen Lebens- und Denkformen aufs engste
verknüpft mit einer Gesellschafts- und Rechtsordnung, die die Grundlage eurer
jahrhundertelangen Herrschaft war. Und das ist verständlich. Aber das bedeutet
keinesfalls, daß ihr Sinn für die Orientalistik als Wissenschaft habt. Ihr
seid Orientalen, aber ihr irrt, wenn ihr glaubt, ihr seiet darum berufen,
Orientalisten zu sein. Ihr habt überhaupt weder Berufung noch wahre Neigung zur
Wissenschaft.«
    »Da schau her!«
    »Nein, ihr habt sie nicht. Und wenn
ich das behaupte, dann sage ich nichts Beleidigendes und Ungünstiges. Im
Gegenteil. Ihr seid die einzigen Herren in diesem Lande oder seid es zumindest
gewesen; ihr habt durch die Jahrhunderte euer Herrentum mit Schwert und Buch,
rechtlich, glaubensmäßig und militärisch erweitert, gefestigt und verteidigt;
das hat aus euch einen

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