Ivo Andric
Typ von Kriegern, Verwaltern und Eigentümern gemacht,
und diese Klasse von Menschen pflegt nirgendwo in der Welt die abstrakten
Wissenschaften, sondern überläßt das denen, die nichts anderes besitzen und
können. Für euch sind die Rechtswissenschaften und die Wirtschaft, denn ihr
seid Menschen der praktischen Berufe. Das sind überall und immer die Menschen
aus der herrschenden Klasse.«
»Das also
bedeutet, daß wir ungebildet bleiben müssen.«
»Nein, das bedeutet es nicht,
sondern es bedeutet, daß ihr bleiben müßt, was ihr seid oder, wenn du es
willst, was ihr gewesen seid; ihr müßt es, denn niemand kann zugleich das, was
er ist, und dessen Widerpart sein.«
»Aber wir sind doch heute keine
herrschende Klasse. Heute sind wir doch alle gleich«, fiel Bachtijarewitsch mit
leichter Ironie ein, in der sowohl Bitterkeit als auch Stolz lagen.
Nein, selbstverständlich seid ihr es
nicht. Die Verhältnisse, die aus euch das gemacht haben, was ihr seid, haben
sich längst geändert, aber das bedeutet nicht, daß ihr euch mit der gleichen
Geschwindigkeit ändern könnt. Das ist weder der erste noch der letzte Fall, daß
eine Gesellschaftsklasse ihre Grundlage verliert und doch bleibt, was sie ist.
Die Lebensbedingungen ändern sich, aber eine Klasse von Menschen bleibt, was
sie ist, denn nur als solche vermag sie zu bestehen, und als solche geht sie
auch unter.«
Das Gespräch der beiden unsichtbaren
jungen Menschen wurde für einen Augenblick unterbrochen, erstickt durch
Bachtijarewitschs Schweigen.
Am heiteren Junihimmel tauchte über
den dunklen Bergen am Horizont der ausgewetzte Mond wie ein steuerlos
dahintreibendes Boot auf. Die weiße Tafel mit der türkischen Inschrift leuchtete
auf der erhöhten Wand plötzlich wie ein schwach erhelltes Fenster in der blauen
Dunkelheit auf.
Bachtijarewitsch sprach jetzt etwas,
aber mit so leiser Stimme, daß nur vereinzelte, zusammenhanglose und
unverständliche Worte bis zu Stikowitsch und Glasintschanin vordrangen. Das
Gespräch war bereits, wie dies immer in den Gesprächen junger Menschen
geschieht, in denen die Assoziationen kühn und schnell sind, zu einem anderen
Thema übergegangen. Vom Studium der orientalischen Sprachen waren sie auf den
Inhalt der Inschrift auf der weißen Tafel vor ihnen gekommen und sprachen über
die Brücke und den, der sie erbaut.
Galus' Stimme war viel stärker und
ausdrucksvoller. An Bachtijarewitschs Lob für Mehmed Pascha Sokolowitsch und
die damalige türkische Verwaltung, die solche Bauwerke errichtet, anknüpfend,
entwickelte er jetzt lebhaft seine nationalistischen Ansichten über die
Vergangenheit und Zukunft des Volkes und seiner Kultur und Zivilisation. (Denn
in Schülergesprächen folgt jeder seinen eigenen Gedanken.)
»Du hast recht«, sprach Galus, »das
muß ein genialer Mensch gewesen sein. Er ist weder der erste noch der letzte
Mensch unseres Blutes, der sich im Dienste eines fremden Kaisers auszeichnete.
Wir haben Stambul, Rom und Wien Hunderte solcher Menschen, Staatsmänner,
Heerführer und Künstler gegeben. Der Sinn unserer nationalen Vereinigung zu
einem großen und mächtigen modernen Nationalstaat liegt auch darin, daß dann
unsere Kräfte im Lande bleiben, sich hier entwickeln und ihren Beitrag zur
allgemeinen Kultur unter unserem Namen, und nicht von fremden Zentren
aus, geben werden.«
»Und du glaubst, daß diese < Zentren > zufällig entstanden sind und daß man, ganz nach Wunsch, wann
man will und wo man will, neue schaffen kann?«
»Ob durch Zufall oder nicht, das ist
heute nicht mehr die Frage; es ist nicht wichtig, wie sie entstanden sind,
wichtig ist vielmehr, daß sie heute verschwinden, daß ihre Blüte vorüber ist
und daß sie degenerieren und anderen, neuen Zentren Platz machen müssen, über
die sich die jungen, freien Völker, die die Bühne der Geschichte betreten,
unmittelbar äußern können.«
»Und du glaubst, daß Mehmed Pascha
Sokolowitsch, wäre er als Bauernjunge da oben in Sokolowitschi geblieben, auch
das geworden wäre, was er geworden ist, und daß er unter anderem auch diese
Brücke errichtet hätte, auf der wir jetzt sprechen?«
»Zu jener Zeit natürlich nicht. Aber
letzten Endes war es für Stambul nicht schwierig, solche Bauwerke zu errichten,
nachdem es uns, wie so vielen anderen unterworfenen Völkern, nicht nur Besitz
und Verdienst, sondern auch die besten Kräfte und das reinste Blut abgenommen
hatte. Wenn wir bedenken, was und wieviel uns durch die Jahrhunderte
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