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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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Dennoch lag Bachtijarewitschs
schweres und hartnäckiges Schweigen in der Nacht, losgelöst von ihm, erhob
sich, fühlbar und wirklich, wie eine unübersteigbare Mauer in der Dunkelheit,
und nur durch die Schwere seines Vorhandenseins leugnete es alles, was der
andere gesprochen, und erklärte seinen stummen, klaren und unveränderlichen
Sinn:
    »Die Fundamente der Welt und die
Grundlage des Lebens und der menschlichen Beziehungen in ihm sind für die
Jahrhunderte festgelegt. Das bedeutet nicht, daß sie sich nicht änderten, aber,
gemessen an der Dauer des Menschenlebens, erscheinen sie ewig. Das Verhältnis
zwischen ihrer Dauer und der Länge des Menschenlebens ist das gleiche wie das
Verhältnis zwischen der unruhigen, beweglichen und schnellen Oberfläche des
Flusses und seinem ständigen und festen Bett, dessen Veränderungen langsam und
unmerklich sind. Allein schon die Vorstellung einer Änderung dieser < Zentren > ist ungesund und undurchführbar. Das ist das gleiche, als
wollte jemand die Quellen der großen Flüsse und die Fundamente der Gebirge
verrücken. Der Wunsch nach schnellen Veränderungen und die Vorstellung ihrer
gewaltsamen Ausführung tauchen oft unter den Menschen wie eine Krankheit auf
und spuken am stärksten in den Köpfen der Jugend; nur denken diese Köpfe
nicht, wie es sich gehört, sie erreichen letzten Endes nichts und halten sich
gewöhnlich nicht lange auf den Schultern. Denn nicht des Menschen Wunsch bestimmt
und leitet den Lauf der Welt. Der Wunsch ist dem Winde gleich, er bewegt den
Staub von einem Orte zum anderen, er verdunkelt manchmal das ganze Blickfeld,
am Ende aber beruhigt er sich und verschwindet und läßt das uralte Bild der
Welt, wie es immer gewesen war. Dauerhafte Werke werden auf Erden nach Gottes
Willen geschaffen, der Mensch ist nur sein blindes und gehorsames Werkzeug. Ein
Werk, das aus dem Wunsche, dem menschlichen Wunsche geboren wird, erlebt entweder
keine Verwirklichung oder es ist nicht von Dauer; in keinem Falle ist es gut.
Alle diese stürmischen Wünsche und kühnen Worte unter nächtlichem Himmel, auf
der Kapija, werden im Grunde nichts ändern; sie werden an den großen und dauernden
Wirklichkeiten der Welt vorübergehen und sich dort verlieren, wo sich Wünsche
und Winde beruhigen. Und wahrhaft große Menschen, wie auch große Bauwerke,
sprossen immer dort hervor, wo ihnen der Ort nach Gottes Ratschluß bestimmt
ist, unabhängig von leeren, vergänglichen Wünschen und menschlicher Eitelkeit.«
    Aber Bachtijarewitsch sprach kein
einziges dieser Worte aus. Diejenigen, die wie dieser mohammedanische Jüngling,
der Enkel eines Beg, ihre Philosophie in ihrem Blute tragen, leben und sterben
nach ihr, aber sie vermögen sie nicht in Worte zu kleiden und empfinden auch
nicht das Bedürfnis danach. Nach längerem Schweigen sahen Stikowitsch und
Glasintschanin nur, wie einer von den beiden unsichtbaren Kameraden hinter der
Mauer eine ausgebrannte Zigarette fortwarf und wie diese, wie eine
Sternschnuppe, in hohem Bogen von der Brücke in die Drina fiel. Gleichzeitig
hörte man, wie sie schweigend und langsam in Richtung zum Markt weitergingen.
Mit ihnen verlor sich schnell das Echo ihrer Schritte.
    Wiederum allein geblieben, fuhren
Stikowitsch und Glasintschanin wie aus einem Traum auf und blickten einander
an, als hätten sie sich erst jetzt getroffen.
    Ihre Gesichter zeigten im schwachen
Mondschein helle und dunkle Flächen, die sich scharf brachen und überschnitten,
und erschienen viel älter, als sie waren. Die Glut ihrer Zigaretten nahm einen
phosphornen Glanz an. Beide waren bedrückt. Der Anlaß war völlig verschieden,
aber die Bedrückung war die gleiche. Beide hatten den gleichen Wunsch,
aufzustehen und nach Hause zu gehen. Aber beide waren wie festgeschmiedet auf
den steinernen Sitzen, die noch warm von der Tageshitze waren. Das Gespräch der
beiden jüngeren Kameraden, dem sie zufällig und unbemerkt beigewohnt hatten,
war ihnen als Verzögerung ihres Gespräches und ihrer gegenseitigen
Rechtfertigung willkommen gewesen. Jetzt aber ließ sich dies Gespräch nicht
mehr vermeiden.
    »Hast du so etwas wie den Herak und
seine Argumente gesehen?« begann Stikowitsch als erster, an seine Abenddiskussion
anknüpfend, und empfand sofort darin eine gewisse Schwäche seinerseits.
    Glasintschanin, der sich in diesem
Augenblick wieder in der Rolle des Schiedsrichters befand, kostete seine
Überlegenheit aus und antwortete nicht sofort.
    »Ich bitte dich«, fuhr

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