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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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Stikowitsch
ungeduldig fort, »heute noch von Klassenkampf zu sprechen und Kleinarbeit zu
empfehlen, da es auch dem letzten unserer Leute klar ist, daß die nationale
Einigkeit und Befriedigung, mit revolutionären Mitteln durchgeführt, die
vordringlichste Aufgabe der Gemeinschaft sind! Das ist doch einfach
lächerlich!«
    In Stikowitschs Stimme lag eine
Frage und die Aufforderung zum Gespräch. Glasintschanin aber antwortete
wiederum nicht. In der Stille dieses rachsüchtigen und boshaften Schweigens
drang zu ihnen Musik, die jetzt aus dem Offizierskasino am Ufer hörbar wurde.
Im Erdgeschoß waren die Fenster erleuchtet und weit geöffnet. Es spielte eine
Geige, von Klavier begleitet. Das war der Regimentsarzt Dr. Balasch, ihn
begleitete die Frau des Garnisonskommandanten, Oberst Bauer. (Sie übten den
zweiten Teil der Schubert-Sonate für Klavier und Violine. Sie begannen gut und
im richtigen Takt, aber noch ehe sie bis zur Mitte kamen, eilte das Klavier
voraus. Die Violine brach das Spiel ab. Nach einer kurzen Stille, in der sie
vielleicht über die strittige Stelle sprachen, begann das Spiel von neuem.) Sie
übten fast regelmäßig so und spielten bis tief in die Nacht, während der
Oberst im anderen Zimmer seine endlosen Preferancepartien spielte oder einfach
bei Mostarer Wein und »schwäbischen« Zigarren vor sich hindöste, während die
jüngeren Offiziere miteinander Witze über die verliebten Musikanten machten.
    Zwischen Frau Bauer und dem jungen
Arzt spann sich in der Tat schon seit Monaten eine verwickelte und schwierige
Geschichte. Die wahre Natur ihrer Beziehungen vermochten auch die
scharfsinnigsten unter den Offizieren nicht zu bestimmen. Die einen
behaupteten, dies Verhältnis sei rein platonisch – und lachten natürlich
darüber –, andere meinten, daß in alledem auch der Körper den ihm zustehenden
Anteil habe. Die beiden aber waren unzertrennlich, mit der vollen, väterlichen
Zustimmung des Obersten, der, eine Seele von Mensch und von Dienst, von
Jahren, Wein und Tabak ziemlich stumpf geworden war.
    Die ganze Stadt kannte die beiden
als ein Paar. Sonst lebte diese ganze Offiziersgesellschaft völlig losgelöst
ihr eigenes Sonderleben, ohne jegliche Verbindung, nicht nur mit dem ansässigen
Volk und der Bürgerschaft, sondern auch mit den fremden Beamten. Am Eingang zu
ihren Gärten, die voll runder und sternförmiger Beete mit seltenen Blumen
waren, stand tatsächlich auf der gleichen Tafel am Park, daß das Mitbringen
von Hunden verboten und der Zutritt für Zivilisten nicht gestattet sei. Ihre
Unterhaltungen und Geschäfte waren allen, die nicht Uniform trugen,
unzugänglich. Ihr ganzes Leben war in der Tat das Leben einer großen und in
sich abgeschlossenen Kaste, die ihre Abgeschlossenheit als wichtigsten Teil
ihrer Kraft pflegte und unter einem glänzenden und erstarrten Äußeren alles das
in sich verbarg, was sonst das Leben den übrigen Menschen an Größe und Not, an
Bitterkeit und Freude leiht.
    Es gibt aber Dinge, die ihrer Natur
nach so beschaffen sind, daß sie sich nicht verbergen lassen, und die jeden,
auch den steifsten Rahmen sprengen und jede, auch die strengste Grenze
überschreiten. (»Drei Dinge lassen sich nicht verbergen«, sagten die Osmanen,
»das sind: Liebe, Husten und Armut.«)
    Das galt auch für dieses Paar verliebter
Menschen. Es gab in der Stadt keinen Greis und kein Kind, keine Frau und keinen
Mann, der sie nicht auf einem ihrer Spaziergänge getroffen hätte, wenn sie,
ins Gespräch versunken, völlig blind und taub für alles um sie herum, auf
einsamen Wegen um die Stadt wanderten. Die Hütejungen hatten sich an sie
gewöhnt wie an jene Käferpärchen, die man im Mai im Gebüsch am Wege findet;
immer zu zweien, einer an den anderen geschmiegt. überall sah man sie zu jeder
Tageszeit: an der Drina und am Rsaw, unterhalb der Ruinen, der alten Festung,
bei Straschischte, auf dem Wege, der aus der Stadt führt. Denn Liebespaaren ist
die Zeit immer kurz, und kein Pfad ist ihnen lang genug. Sie ritten, sie fuhren
im Gig, am meisten aber gingen sie zu Fuß, mit jenem Gang, in dem zwei Menschen
gehen, die nur füreinander da sind, und in jenem besonderen Schritt, der zeigt,
daß ihnen alles auf der Welt gleichgültig ist außer dem, was einer dem anderen
zu sagen hat.
    Er war ein magyarisierter Slowake
aus einer Beamtenfamilie, arm, auf Staatskosten ausgebildet, jung, wirklich
musikalisch, ehrgeizig, überempfindlich, besonders seiner Herkunft wegen, die
ihn

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