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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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Weile leben, denn die Eingeweide
seien nicht verletzt. Abidaga antwortete ihm nichts, nicht einmal mit einem
Blick, er winkte nur mit der Hand zum Zeichen, daß man ihm sein Pferd
vorführe, und schickte sich an, sich von Tosun Effendi und Meister Antonio zu
verabschieden. Alle begannen auseinanderzugehen. Man hörte, wie auf dem Markt
der Ausrufer das vollstreckte Urteil ausrief und die gleiche oder noch
schwerere Strafe ankündigte, die jeden erwarte, der ähnliches versuchen würde.
    Plewljak stand unschlüssig auf der
Plattform, die sich plötzlich geleert hatte. Sein Bursche hielt das Pferd, und
die Sejmen warteten auf Befehle. Er fühlte, daß er etwas sagen müsse, aber er
konnte es nicht vor Aufregung, die erst jetzt in ihm zu wachsen und ihn
aufzuschwellen begann, als sollte er fortfliegen. Erst jetzt kam ihm alles das
zum Bewußtsein, woran er früher, ganz beansprucht von den Vorbereitungen zur
Hinrichtung, nicht hatte denken können. Erst jetzt erinnerte er sich Abidagas
Drohung, er werde ihn bei lebendigem Leibe pfählen, wenn es ihm nicht gelänge,
den Schuldigen zu fassen. Diesem Schrecklichen war er entkommen, aber um Haaresbreite,
im letzten Augenblick. Der dort auf dem Gerüst hatte mit aller Kraft des Nachts
heimtückisch daran gearbeitet, daß es wirklich so geschähe. Aber nun war es
umgekehrt gekommen. Und allein der Anblick dieses Menschen, der, angebunden und
über den Fluß hinausgeschoben, noch lebte, erfüllte ihn zugleich mit Schrecken
und mit einer schmerzhaften Freude, daß nicht ihn dieses Schicksal ereilt habe
und daß sein Körper unangetastet, frei und beweglich sei. Von diesem Gedanken
breiteten sich unwiderstehlich feurige Dornen in seiner Brust aus, gingen in
seine Füße, in die Hände und drängten ihn, sich zu bewegen, zu lachen und zu
sprechen, als müsse er sich selbst überzeugen, daß er gesund sei, daß er sich
frei bewegen, sprechen, laut lachen, wenn er wolle, auch singen könne und nicht
vom Pfahl ohnmächtige Verwünschungen knurre und den Tod als einziges Glück
erwarte, das ihm noch widerfahren könnte. Seine Hände bewegen sich von selbst,
seine Füße beginnen von selbst zu tanzen, sein Mund öffnet sich von selbst, und
aus ihm bricht ein krampfhaftes Lachen, und von selbst sprudeln die Worte:
    »Ha, ha, ha! – Radisaw, du Bergfee,
was bist du so steif geworden? Was untergräbst du nicht die Brücke? Was
knurrst und röchelst du? Singe doch, du Fee! Tanze doch, du Fee!«
    Überrascht und verstört schauten die
Sejmen zu, wie ihr Oberster mit ausgebreiteten Armen tanzte und, singend und
röchelnd vor Lachen, vor sonderbaren Worten und weißem Schaum, der ihm immer
mehr aus den Mundwinkeln quoll, fast erstickte. Und sein Pferd, der Braune,
warf ihm von der Seite furchtsame Blicke zu.

4
    Alle, die an dem einen oder anderen Ufer
der Vollstreckung der Strafe beigewohnt hatten, verbreiteten in der Stadt und
in der Umgebung furchtbare Gerüchte. Eine unbeschreibliche Furcht befiel die
Bürger und Arbeiter. Langsam und schrittweise drang den Menschen die volle
Erkenntnis dessen ins Bewußtsein, was hier in ihrer Nähe an diesem kurzen
Novembertage geschehen war. Alle Gespräche drehten sich um den Menschen, der
dort oben über dem Gerüst am Pfahl noch immer lebte. Jeder gelobte sich in
seinem Innersten, daß er von ihm nicht sprechen würde; aber was nützte das,
wenn die Gedanken ständig zu ihm zurückkehrten und den Blick dahin zwangen.
    Die Bauern, die Steine auf
Ochsenkarren aus Banja heranfuhren, senkten die Augen und trieben ihre Ochsen
sanft zur Eile an. Die Arbeiter am Ufer und auf dem Gerüst riefen einander bei
der Arbeit gedämpft an und nur soviel, wie unvermeidlich war. Selbst die
Aufseher, mit ihren Haselruten in der Hand, waren ruhiger und milder gestimmt.
Die dalmatinischen Steinmetzen wandten, bleich und mit zusammengebissenen
Zähnen, der Brücke den Rücken zu und schlugen zornig auf ihre Meißel, die in
der allgemeinen Stille wie eine Schar Spechte klopften.
    Schnell kam die Dämmerung, und die
Arbeiter eilten zu ihren Hütten, vom Wunsche getrieben, dem Gerüst möglichst
fern zu sein. Noch ehe es völlig dunkel wurde, kletterten Merdschan und ein
Abidaga ergebener Bursche erneut zu Radisaw und stellten mit Sicherheit fest,
daß der Verurteilte auch jetzt, vier Stunden nach Vollzug der Strafe, noch
lebte und bei Bewußtsein war. Im Fieberschauer bewegte er langsam und
schwerfällig die Augen, als er aber den Zigeuner erblickte, begann er lauter

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