Ivo Andric
zu
stöhnen. In diesem Stöhnen, mit dem er seine Seele aufgab, konnte man nur
einzelne Worte unterscheiden. – »Türken... Türken... Brücke!«
Befriedigt kehrten sie zu Abidagas
Haus auf dem Bikawatz zurück und erzählten unterwegs jedem, daß der Verurteilte
noch lebe, daß er mit den Zähnen knirsche und vom Pfahl schön und deutlich
spreche; es sei Hoffnung, daß er noch bis morgen mittag leben werde.
Befriedigt war auch Abidaga, und er befahl, man solle Merdschan die
versprochene Belohnung auszahlen.
In dieser Nacht schlief alles
Lebendige in der Stadt und um die Brücke in Furcht ein. Es schlief eigentlich
nur ein, wer schlafen konnte, und viele gab es, zu denen der Schlaf nicht
kommen wollte.
Am nächsten Morgen dämmerte ein
sonniger Novembermontag heran. Weder dort um den Bau noch in der ganzen Stadt
gab es ein Auge, das nicht auf jenes verworrene Gewirr von Balken und Brettern
über dem Wasser geblickt hätte, wo am äußersten Ende, wie am Bug eines
Schiffes, aufrecht und losgelöst, der Mann auf dem Pfahl aufragte. Und
mancher, der beim Erwachen geglaubt, er habe nur geträumt, was sich gestern vor
aller Augen auf der Brücke ereignet hatte, stand jetzt und blickte unverwandt
auf seinen qualvollen Traum, der sich fortsetzte und als Wirklichkeit im Sonnenlicht
andauerte.
Bei den Arbeitern die gleiche
gestrige Stille voller Zerknirschung und Verbitterung. In der Stadt das
gleiche Flüstern und die gleiche Verlegenheit. Merdschan und jener Bursche
Abidagas kletterten erneut auf das Gerüst und betrachteten den Verurteilten
von allen Seiten; sie sprachen etwas untereinander, hoben den Blick und
schauten nach oben in das Gesicht des Bauern; einmal zog ihn Merdschan an den
Hosen. Schon an der Art, wie sie zum Ufer hinunterstiegen und schweigend zwischen
den geschäftigen Menschen hindurchgingen, begriffen alle, daß der Bauer
ausgelitten hatte. Und alle Serben empfanden etwas wie eine Erleichterung, wie
einen unsichtbaren Sieg.
Jetzt blickten sie alle mutiger
hinauf zum Gerüst und zum Verurteilten. Alle fühlten sie, daß sich die Waage in
ihrem ständigen Ringen und Sich-Messen mit den Türken jetzt auf ihre Seite
geneigt hatte. Der Tod war das schwerste Pfand. Die bis dahin von Furcht
geschlossenen Münder öffneten sich von selbst. Schmutzig, naß, unrasiert und
bleich, mit Kiefernstangen große Blöcke Banjaer Steine wälzend, machten sie für
einen Augenblick halt, um in die Hände zu spucken und mit unterdrückter
Stimme, einer zum anderen, zu sagen:
»Gott sei seiner Seele gnädig!«
»Ach, der Gram! Leid unseres
Herzens!«
»Siehst du denn nicht, daß er ein
Heiliger geworden ist? Ein Heiliger, verstehst du!«
Und jeder warf dem Verstorbenen, der
sich aufrecht hielt, als schreite er einer Abteilung voran, einen verstohlenen
Blick zu. Oben, in seiner Höhe, schien er ihnen nicht mehr entsetzlich oder
bedauernswert. Im Gegenteil, allen war jetzt klar, wie sehr er sich abgesondert
und erhöht hatte. Er stand nicht auf der Erde, er hielt sich nicht mit den
Händen, er schwamm nicht, er flog nicht; er trug seinen Schwerpunkt in sich
selbst; befreit von irdischen Bindungen und Lasten, spürte keine Qual mehr,
keine Macht konnte ihm etwas anhaben, weder Gewehr noch Säbel, weder
menschliches Wort noch türkisches Gericht. So, nackt bis zum Gürtel, mit
gebundenen Händen und Füßen, aufrecht, den Kopf zum Pfahl zurückgeworfen,
erinnerte dieses Bild nicht so sehr an einen menschlichen Körper, der wächst
und zerfällt, als vielmehr an ein hoch erhobenes, festes und unvergängliches
Standbild, das dort für immer bleiben würde.
Die Fronarbeiter wandten sich ab und
bekreuzigten sich verstohlen.
Auf dem Mejdan liefen die Frauen
über den Hof, eine zur andern, um ein paar Minuten miteinander zu flüstern und
sich gemeinsam auszuweinen, dann eilten sie sofort wieder zurück nach Hause,
damit ihnen das Essen nicht anbrenne. Eine ent zündete ein Totenlicht. Bald
brannten in allen Häusern die Totenlichter, versteckt in den Winkeln der
Stuben. Die Kinder blinzelten mit den Augen, sie blickten in feiertäglicher
Stimmung in diesen Glanz und, da sie die unverständlichen, abgebrochenen
Sätze der Erwachsenen hörten (»Behüte, Herr, und beschütze uns!« – »Ein
Märtyrer, er ist von Gott aufgenommen, als hätte er die größte Kirche
gestiftet!« – »Stehe uns bei, Du einziger Gott, vertreibe den Feind und gib ihm
keine lange Macht!«), fragten sie unermüdlich, was das sei, ein Märtyrer,
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