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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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um den Bau herum verbreitet. Die Fronarbeiter schafften schweigend,
jeder vermied es, dem anderen in die Augen zu sehen, und jeder schaute auf die
vor ihm liegende Arbeit, als sei sie das Alpha und Omega der Welt.
    Schon eine Stunde vor Mittag
sammelte sich die Stadtbevölkerung, größtenteils Türken, auf dem Plateau an
der Brücke. Die Kinder kletterten auf die hohen Blöcke unbehauenen Steines, die
dort lagen. Die Arbeiter schwärmten um die langen, schmalen Bretter, an denen
das Schwarzbrot für die Fronarbeiter verteilt wurde, das zuwenig war zum Leben
und zuviel zum Sterben. Kauend betrachteten sie schweigend und verstört ihre
Umgebung. Bald darauf erschien Abidaga in Begleitung Tosun Effendis, Meister
Antonios und noch einiger angesehener Türken. Alle standen sie auf einer
erhöhten, trockenen Fläche zwischen der Brücke und dem Schuppen, in dem der
Verurteilte war. Abidaga ging noch einmal zur Hütte, wo ihm gemeldet wurde, es
sei alles bereit: dort liege der Eichenpfahl, etwa vier Arschin lang,
zugespitzt, wie es sich gehöre, oben mit Eisen beschlagen und ganz dünn und
spitz, von oben bis unten mit Talg gut eingefettet; dort auf dem Gerüst seien
die Balken befestigt, zwischen die der Pfahl eingepaßt und befestigt werden
solle, der Holzhammer zum Einschlagen, die Stricke und alles übrige.
    Plewljak begann hin- und
herzulaufen, das Gesicht aschgrau, die Augen gerötet. Nicht einmal jetzt konnte
er Abidagas flammenden Blick aushalten.
    »Höre, wenn nicht alles geht, wie es
soll, und wenn du mich vor aller Welt bloßstellst, dann kommt mir nicht unter
die Augen, du und dieser Scheißkerl von Zigeuner; ich ersäufe euch in der Drina
wie junge Hunde.«
    Und dann fügt er, zu dem zitternden
Zigeuner gewandt, milder hinzu:
    »Sechs Groschen bekommst du für die
Arbeit und weitere sechs, wenn er bis zum Abend am Leben bleibt. Also paß auf.«
    Von der Hauptmoschee auf dem
Marktplatz erscholl die scharfe, durchdringende Stimme des Hodscha, der zum
Mittagsgebet rief. Unter dem versammelten Volke entstand Unruhe, und kurz
darauf öffnete sich die Tür des Schuppens. Zehn Sejmen stellten sich in zwei
Reihen, je fünf zu beiden Seiten, auf. Zwischen ihnen ging Radisaw, barfüßig
und barhäuptig, schnell und gebeugt wie immer, aber beim Gehen »siebte« er
nicht mehr, sondern ging mit kurzen, eigenartigen Schritten, er hüpfte fast auf
den verstümmelten Füßen, die blutige Löcher statt der Fußnägel zeigten, auf
der Schulter trug er einen langen, weißen, zugespitzten Pfahl. Hinter ihm ging
Merdschan mit noch zwei Zigeunern, die ihm bei der Vollstreckung des Urteils
helfen sollten. Plötzlich ritt von irgendwoher Plewljak auf seinem Braunen
herzu und setzte sich an die Spitze des Zuges, der nur etwa einhundert Schritte
bis zum Gerüst zurückzulegen hatte.
    Das Volk reckte die Hälse und
stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Mann zu sehen, der gewagt hatte,
Verschwörung und Widerstand anzuzetteln und den Bau zu beschädigen. Alle waren
sie überrascht vom armseligen und elenden Aussehen dieses Menschen, den sie
sich ganz anders vorgestellt hatten. Natürlich wußte auch niemand von ihnen,
warum er so lächerlich hüpfte und von einem Fuß auf den anderen tänzelte, und
niemand sah jene Brandmale der Ketten, die ihm wie breite Riemen über die Brust
liefen, denn sie hatten ihm das Hemd und die Joppe übergestreift. Daher
erschien er allen viel zu jämmerlich und unansehnlich für die Tat, wegen der
man ihn zum Richtplatz führte. Lediglich der lange weiße Pfahl gab allem eine
schaurige Größe und zog die Blicke auf sich.
    Als sie an die Stelle kamen, an der
die Erdarbeiten am Ufer begannen, stieg Plewljak ab und übergab mit einer
feierlichen und übertriebenen Geste die Zügel dem Pferdeknecht, während er sich
mit den übrigen auf dem steilen, zerfurchten Wege verlor, der zum Wasser
hinunterführte. Kurz darauf konnte das Volk sehen, wie sie in der gleichen
Reihenfolge wieder auf dem Gerüst auftauchten und langsam und vorsichtig nach
oben stiegen. Auf dem engen Weg aus Balken und Brettern umringten und
umdrängten die Sejmen Radisaw vollends, damit er ihnen nicht in den Fluß
entspringe. So bewegten sie sich langsam weiter und stiegen immer höher, bis
sie zum Ende kamen. Dort war über dem Wasser ein Raum von der Größe eines
mittleren Zimmers mit Brettern belegt. Auf diese Fläche stellten sich, wie auf
eine Bühne, Radisaw, Plewljak und die drei Zigeuner, während die übrigen
Sejmen rund herum

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