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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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der bald wuchs, bald fiel, sah man, daß die
Sonne irgendwo mit dem Nebel kämpfte, den sie nicht durchdringen konnte. Alles
war gedämpft und gespenstisch neu und fremd. Die Menschen tauchten
unvermittelt aus dem Nebel auf und verloren sich ebenso unvermittelt in ihm.
Bei diesem Wetter fuhr am frühen Morgen ein einfacher Wagen durch die Stadt.
Auf ihm saßen zwei Sejmen und hielten den gefesselten Plewljak, der noch bis
gestern ihr Vorgesetzter gewesen.
    Seit er vorgestern, in einem Anfall
unerwarteter Begeisterung, daß er noch lebe und nicht auf dem Pfahle stecke,
vor allen zu tanzen begonnen hatte, war er nicht wieder zur Ruhe gekommen.
Alle Muskeln an ihm tanzten; kein Fleck hielt ihn, ständig quälte ihn ein
unbezähmbares Verlangen, sich selbst zu überzeugen und den anderen zu beweisen,
daß er gesund und heil sei und sich bewegen könne. Manchmal erinnerte er sich
Abidagas (das war der schwarze Punkt in seiner Freude!), und sofort verfiel er
in tiefes Nachdenken. Aber in der Zeit sammelte er neue Kraft, die ihn
unbezähmbar trieb, sich zu drehen und wie toll zu hüpfen. Und wieder erhob er
sich und begann zu tanzen, mit ausgebreiteten Armen, mit den Fingern
schnalzend und sich in den Hüften wie eine Tänzerin wiegend, um mit immer neuen
lebhaften und hantigen Bewegungen zu beweisen, daß er nicht auf dem Pfahl
stecke. Dazu keuchte er im Rhythmus des Tanzes:
    »Seht, seht ... auch das kann ich,
seht, auch das ... seht!«
    Er wollte nichts essen, und jede
Unterhaltung, die er begann, brach er unvermittelt ab und ging zum Tanz über,
sich bei jeder Bewegung kindlich überzeugend:
    »Hier, sieh doch, hier, auch das,
sieh doch!«
    Als sie es gestern abend schließlich
wagten, Abidaga zu sagen, wie es um Plewljak stand, antwortete er kalt und
kurz:
    »Bringt den Verrückten nach Plewlje,
sie sollen ihn zu Hause festbinden, damit er nicht draußen als Verrückter
herumtobt. Für diese Arbeit taugte er sowieso nicht.«
    So wurde es auch getan. Aber da sich
der Oberste nicht beruhigen konnte, mußten ihn seine Sejmen an dem Wagen, auf
dem er saß, festbinden. Er weinte und wehrte sich, und solange er sich
irgendwie mit einem Teil seines Körpers rühren konnte, zuckte er und schrie
sein: »Seht, seht!« Schließlich mußten sie ihm Füße und Hände binden, so daß er
auf dem Wagen saß, aufgerichtet wie ein Getreidesack und ganz in Stricke
eingewickelt. Aber jetzt, wo er sich nicht mehr rühren konnte, begann er sich
einzubilden, sie schlügen ihn auf den Pfahl, und er begann sich unter
entsetzlichem Geschrei zu bäumen und zu wehren:
    »Mich nicht, mich nicht! Greift die
Fee! Nicht, Abidaga!«
    Aus den letzten Häusern am Ausgang
der Stadt eilten die Leute, aufgeschreckt durch dieses Geschrei, heraus, aber
der Wagen mit den Sejmen und dem Kranken verlor sich auf der Landstraße nach
Dobrun schnell im dichten Nebel, durch den man die Sonne nur ahnen konnte.
    Diese unerwartete, traurige Abreise
Plewljaks jagte den Leuten noch stärkeren Schrecken in die Glieder. Man begann
zu flüstern, daß der verurteilte Bauer unschuldig gewesen sei und daß ihn
dieser Plewljak auf dem Gewissen habe. Unter den Serben auf dem Mejdan
erzählten die Frauen, daß die Feen den toten Körper Radisaws unter den
Butkower Felsen beerdigt hätten und daß des Nachts ein starkes Licht auf sein
Grab falle: Tausende und aber Tausende brennender Lichter leuchteten und
flackerten in langer Reihe vom Himmel bis zur Erde. Sie hätten sie durch ihre
Tränen gesehen.
    Alles mögliche wurde geflüstert und
geglaubt, aber die Furcht war stärker denn alles. Und die Arbeit an der Brücke
ging schnell und glatt, ohne Unterbrechung und Störung weiter. Und sie wäre,
Gott weiß wie lange, weitergegangen, hätte nicht Anfang Dezember unerwartet ein
starker Frost eingesetzt, gegen den auch Abidagas Gewalt nichts vermochte.
    Einen solchen Frost und solche
Schneestürme hatte es in der ersten Dezemberhälfte seit Menschengedenken nicht
gegeben. Der Stein fror am Boden fest, und das Holz zersprang vor Kälte. Ein
feiner Pulverschnee verwehte die Gegenstände, das Werkzeug und ganze Schuppen,
und am nächsten Morgen trieb ihn ein launischer Wind an eine andere Stelle und
verwehte einen anderen Winkel. Von selbst hörte die Arbeit auf, und die Furcht vor
Abidaga verblaßte und erlosch dann völlig. Abidaga trotzte einige Tage, am Ende
aber gab er nach. Er entließ die Arbeiter und stellte die Arbeit ein. Bei
dickstem Schneegestöber ritt er mit seinen Leuten

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