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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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kleiner Wasserfall heraus.
    Zwei Tage später aber fiel das
Wasser schnell, der Himmel heiterte sich auf, und die Sonne strahlte warm und
reich, wie sie es nur an einigen Oktobertagen in jener sonnigen Gegend kann.
Die Stadt sah an jenem schönen Tage furchtbar und bedauernswert aus. Die Hütten
der Zigeuner und der armen Leute am Ufer waren in der Richtung der Strömung
geneigt, viele ohne Dach, Kalk und Lehm waren von ihnen abgefallen, und schwarz
zeigte sich das Flechtwerk aus Haselruten, so daß sie aussahen wie Gerippe. In
den ummauerten Höfen starrten die Bürgerhäuser aus zerbrochenen Fenstern; an
jedem zeigte eine rote Schlammspur, wie weit es unter Wasser gestanden hatte.
Viele Ställe waren fortgeschwemmt und Scheuern umgestürzt. In den niedrigen
Läden stand knietiefer Schlamm und in diesem Schlamm alle Ware, die nicht
rechtzeitig fortgeschafft werden konnte. In den Gassen lagen ganze Bäume, die
das Wasser von irgendwo herangeschwemmt hatte, und die aufgetriebenen Leichen
von ertrunkenem Vieh.
    Das war ihre Stadt, in die sie nun
hinuntergehen sollten, um in ihr weiterzuleben. Aber zwischen den noch
überschwemmten Ufern, über dem Wasser, das sich, noch immer trübe und reißend,
brausend dahinwälzte, stand die Brücke, weiß und unverändert, in der Sonne.
Das Wasser reichte noch immer bis zur Mitte der Pfeiler, und die Brücke sah
aus, als sei sie in einen anderen und tieferen Fluß getreten als den, der
gewöhnlich unter ihr dahinfließt. Oben, an der Brüstung, hatten sich Schlammschichten
abgesetzt, die jetzt trockneten und in der Sonne aufrissen, und an der Kapija
hatte sich ein ganzer Haufen Zweige und Treibgut verfangen, aber alles das
änderte nicht im geringsten das Aussehen der Brücke, die als einzige das
Hochwasser ohne Schaden überstanden hatte und aus ihm unverändert auftauchte.
    Alles in der Stadt stürzte sich
sofort auf Arbeit und Verdienst und die Ausbesserung des Schadens, und niemand
hatte Zeit, über Sinn und Bedeutung der siegreichen Brücke nachzudenken. Aber
ein jeder, der seiner Arbeit nachging in dieser heimgesuchten Stadt, in der
das Wasser alles ohne Ausnahme beschädigt oder zumindest verändert hatte,
wußte, daß es in seinem Leben etwas gab, das jedem Element widersteht und das
wegen der unfaßlichen Harmonie seiner Formen und der unsichtbaren, weisen
Kraft seiner Fundamente aus jeder Prüfung unzerstörbar und unverändert
hervorgeht.
    Der nachfolgende Winter war schwer.
Alles, was schon auf Höfen und in Scheuern geordnet war, Holz, Getreide, Hafer,
hatte das Hochwasser davongetragen; es hieß, die Häuser, Ställe und Zäune
auszubessern und auf Borg neue Ware an Stelle der alten zu suchen, die in den
Lagern verdorben war. Kosta Baranatz, der wegen seiner zu verwegenen
Spekulationen mit Pflaumen am meisten gelitten hatte, überlebte diesen Winter
nicht; er grämte sich vor Kummer und Scham zu Tode. Es blieben seine kleinen
Kinder, fast in Armut, und eine nicht große, auf alle Dörfer verstreute Schuld
zurück. Es blieb auch die Erinnerung an ihn als einen Menschen, der über seine
Kräfte hinauswollte.
    Aber schon im nächsten Sommer begann
das Gedenken an das große Hochwasser in die Erinnerung der älteren Leute überzugehen,
in der es noch lange leben würde, die Jugend aber saß in Gesang und
Unterhaltung auf der weißen, glatten, steinernen Kapija über dem Wasser, das
tief unter ihnen dahinfloß und mit seinem Rauschen ihr Lied ergänzte. Das
Vergessen heilt alles, und das Lied ist die schönste Form des Vergessens, denn
im Liede erinnert sich der Mensch nur dessen, was er liebt.
    So lernte auf der Kapija, zwischen
Himmel, Fluß und Erde, Generation auf Generation, nicht im Übermaß zu beklagen,
was das trübe Wasser fortträgt. Dort nahm sie die unbewußte Philosophie der
Stadt auf: daß das Leben ein unfaßbares Wunder ist, denn unaufhörlich
verbraucht und verströmt es, und dennoch dauert es an und steht fest »wie die
Brücke über die Drina«.

6
    Außer den Hochwassern gab es auch noch
andere Angriffe auf die Brücke und ihre Kapija; die Entwicklung der Ereignisse
und der Verlauf der menschlichen Konflikte brachten sie mit sich; aber weniger
noch als das feuchte Element konnten sie der Brücke schaden oder dauernd etwas
an ihr verändern.
    Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts
brach in Serbien der Aufstand aus. Diese Stadt, dicht an der Grenze zwischen
Bosnien und Serbien, war schon seit jeher in unmittelbarer Verbindung und
ständiger Berührung mit

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