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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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allem, was in Serbien vorging, sie war mit ihm wie der
»Nagel mit dem Finger« verwachsen. Nichts, was sich im Wischegrader Gebiet
ereignete – Mißernte, Krankheit, Gewalttaten oder Aufstand –, konnte denen aus
dem Uschitzer Kreis gleichgültig bleiben, und umgekehrt. Nur anfangs
erschienen die Dinge fern und bedeutungslos; fern,denn sie spielten sich da
hinten am anderen Ende des Belgrader Paschaluks 12 ab, bedeutungslos, denn Gerüchte über Aufstände waren keinerlei Neuigkeit. Seit
ein Türkisches Reich besteht, gab es auch sie, denn es gibt keine Macht ohne
Aufstand und Verschwörung, so, wie es keinen Besitz ohne Sorge und Verlust
gibt. Aber mit der Zeit griff der Aufstand in Serbien immer mehr in das Leben
des ganzen bosnischen Paschaluks und besonders in das Leben dieser Stadt ein,
die eine Wegstunde von der Grenze liegt.
    Je mehr sich der Aufstand in Serbien
ausbreitete, desto mehr forderte man von den bosnischen Türken, Männer für das
Heer zu stellen und zu seiner Ausrüstung und Versorgung beizusteuern. Soldaten
und Trosse, die man nach Serbien schickte, gingen zu einem guten Teil über die
Stadt. Das brachte Unkosten, Unbequemlichkeiten und Gefahren für die Türken,
besonders aber für die Serben, die in diesen Jahren mehr denn je zuvor
verdächtigt, verfolgt und ausgepreßt wurden. Eines Sommers drang der Aufstand
schließlich auch bis in diese Gegenden vor. Die Aufständischen hatten Uschitze
umgangen und waren bis auf zwei Stunden Weges an die Stadt herangekommen. Dort
zerschossen sie mit einer Kanone Lutwibegs festes Haus in Weletowo, und in der
Umgegend brannten sie Türkenhäuser nieder.
    Es gab in der Stadt Türken und
Serben, die behaupteten, sie hätten »Karageorges Geschütz« mit eigenen Ohren
gehört. (Natürlich mit völlig entgegengesetzten Gefühlen.) Aber wenn es auch
strittig sein konnte, ob der Donner des Aufständischen-Geschützes bis zur Stadt
zu hören war – denn der Mensch glaubt oft das zu hören, wovor er sich fürchtet
oder worauf er hofft –, so konnte doch kein Zweifel über die Feuer bestehen,
die die Aufständischen des Nachts auf dem Panos, einer steilen und kahlen
Anhöhe zwischen Weletowo und Gostilje, entzündeten, auf der man die
vereinzelten hohen Kiefern von der Stadt aus mit bloßem Auge zählen konnte.
Türken wie Serben sahen die Feuer gut und beobachteten sie genau, obgleich sich
die einen wie die anderen so stellten, als sähen sie sie nicht. Aus verdunkelten
Fenstern oder aus der Finsternis dichter Gärten verfolgten die einen wie die
anderen ihr Aufflammen, ihre Bewegungen und ihr Erlöschen. (Unsere Frauen
bekreuzigten sich im Dunkeln und weinten aus unverständlicher Rührung, und in
ihren Tränen brachen sich diese Feuer des Aufstandes wie jene verzauberten
Flammen, die einst auf Radisaws Grab fielen und die ihre Ururgroßmütter vor
fast drei Jahrhunderten ebenso durch ihre Tränen vom gleichen Mejdan beobachtet
hatten.)
    Diese flackernden, ungleichmäßigen
Feuer auf dem dunklen Hintergrund der Sommernächte, in denen Himmel und Berge miteinander
verschmolzen, erschienen den Serben wie ein neues Sternbild, aus dem sie
begehrlich kühne Botschaften lasen und bangend ihr Geschick und die kommenden
Ereignisse voraussagten. Für die Türken waren dies die ersten Wellen eines feurigen
Meeres, das sich dort in Serbien ausbreitete und hier bis an die Berghänge über
der Stadt brandete. In diesen Sommernächten bewegten sich die Wünsche und
Gebete der einen wie der anderen um diese Feuer, nur in entgegengesetzter
Richtung. Die Serben beteten zu Gott, er möge diese rettungbringende Flamme,
die eins war mit jener, die sie von jeher in sich trugen und sorgfältig in ihrer
Seele verbargen, auch nach hier, auf unsere Berge, tragen, und die Türken
beteten zu Gott, er möge sie aufhalten, erdrücken und auslöschen, auf daß die
umstürzlerischen Absichten der Ungläubigen vereitelt würden und wieder die
alte Ordnung und der gute Friede des wahren Glaubens herrschten. Die Nächte
waren damals erfüllt von vorsichtigem und leidenschaftlichem Geflüster, die
unsichtbaren Wellen der kühnsten Wünsche und Träume, der unwahrscheinlichsten
Gedanken und Pläne durchzogen sie und kreuzten, überschlugen und brachen sich
in der blauen Dunkelheit über der Stadt. Am nächsten Morgen aber, wenn der Tag
graute, gingen Türken und Serben ihrer Arbeit und ihren Geschäften nach, trafen
sich und gingen aneinander mit erloschenen und ausdruckslosen

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