Ivo Andric
auf ihr wie auf einer Zauberschaukel, gleichzeitig
geht man auf Erden, schwimmt auf dem Wasser, fliegt im Raum und ist dennoch
fest und sicher verbunden mit der Stadt und seinem weißen Häuschen dort an dem
Ufer mit seinem Garten und den Pflaumenbäumen ringsum. Mancher dieser
bescheidenen Bürger, der nicht viel mehr besitzt als dieses Haus und das kleine
bißchen Laden am Markt, empfindet bei Kaffee und Tabak in solchen Stunden den
Reichtum der Welt und die Unermeßlichkeit der Gottesgaben. Alles das vermag
durch die Jahrhunderte den Menschen ein Bauwerk zu geben, das schön und stark,
zu guter Stunde erdacht, an rechter Stelle errichtet und glücklich ausgeführt
wurde.
Auch dies war ein solcher Abend,
erfüllt von Gesprächen, Lachen und Scherzen, die die Bürger untereinander
austauschten oder Vorübergehenden zuwarfen.
Die lebhaftesten und lautesten
Scherze woben sich um einen ziemlich kleinen, aber starken jungen Menschen
sonderbaren Aussehens. Das war Salko Tschorkan, der Einäugige.
Tschorkan war der Sohn einer
Zigeunerin und eines Soldaten oder Offiziers aus Anatolien, der einmal in der
Stadt gedient und sie verlassen hatte, noch ehe ihm dieser unerwünschte Sohn
geboren wurde. Bald starb auch die Mutter, und das Kind wuchs, ohne jemanden
von den Seinen zu haben, auf. Es nährte ihn die ganze Stadt; er gehörte allen
und gehörte doch zu niemandem. Er half in Läden und Häusern, verrichtete alle
Arbeiten, die niemand anders verrichten wollte, reinigte Gruben und Abflüsse
und grub alles ein, was da krepierte oder das Wasser herantrieb. Niemals hatte
er ein eigenes Haus noch einen eigenen Familiennamen oder einen festen Beruf
gehabt. Er aß, wo er gerade war, stehend oder im Gehen, schlief auf den
Dachböden und kleidete sich in die bunten Lumpen, die ihm andere gaben. Schon
als Kind hatte er ein Auge verloren. Verschroben, gutmütig, ein Spaßvogel und
Trunkenbold, diente er den Städtern zu Scherz und Gelächter ebensosehr wie zur
Arbeit.
Um Tschorkan hatten sich einige
junge Leute, Kaufmannssöhne, geschart, lachten und trieben mit ihm grobe
Scherze.
Die Luft roch nach reifen Melonen
und gebranntem Kaffee. Von den großen steinernen Platten, die, noch warm von
der Tagesglut, mit Wasser besprengt und gut gefegt waren, erhob sich lau und
duftend der besondere Duft der Kapija, der durch Sorglosigkeit ansteckte und
zu müßigem Träumespinnen verführte.
Es war der Augenblick zwischen Tag
und Nacht. Die Sonne war untergegangen, aber noch zeigte sich nicht der helle
Stern über dem Moljewnik. In einem solchen Augenblick, da auch die einfachsten
Dinge das Aussehen einer Erscheinung annehmen können, voller Größe,
Furchtbarkeit und besonderer Bedeutung, zeigten sich die ersten Flüchtlinge aus
Uschitze auf der Brücke.
Die Männer gingen meist zu Fuß,
verstaubt und bedrückt, und die dicht verhüllten Frauen oder kleinen Kinder
schwankten auf den kleinen Pferden, festgebunden zwischen Windeln oder auf
Kisten. Der eine oder andere angesehene Mann ritt wohl auf einem besseren
Pferd, aber in einem so traurigen Trott und ge senkten Kopfes, daß er das
Unglück noch mehr verriet, das sie hierher vertrieben. Einige führten eine
Ziege am Strick. Andere trugen ein Lamm in den Armen. Alle schwiegen, nicht
einmal die Kinder weinten. Man hörte nur das Trappeln der Pferde, die Schritte
der Menschen und das gleichförmige Klappen der kupfernen und hölzernen
Gegenstände auf den überladenen Tieren.
Das Erscheinen dieser übermüdeten
und heimatlos gewordenen Menschen ließ mit einem Male die Lebhaftigkeit auf
der Kapija erlöschen. Die Älteren blieben auf den steinernen Bänken. Die
Jüngeren erhoben sich nacheinander und bildeten zu beiden Seiten der Kapija
eine lebendige Mauer, zwischen der sich der Zug hindurchbewegte. Einige der
Städter sahen nur mitleidsvoll auf die Flüchtlinge und schwiegen, andere
riefen ihnen ein »Merhaba« als Gruß zu und versuchten, sie aufzuhalten und
ihnen irgend etwas anzubieten, aber die beachteten das Angebotene nicht und
antworteten kaum auf den Gruß. Sie eilten nur, um noch bei Tageslicht das
Nachtquartier auf dem Okolischte zu erreichen.
Es waren ihrer im ganzen etwa
einhundertzwanzig Familien. Ober einhundert Familien gingen weiter nach
Sarajewo, wo sie Aussicht hatten, unterzukommen, einige fünfzehn aber blieben
hier in der Stadt; das waren zumeist jene, die hier einen der Ihrigen hatten.
Ein einziger dieser übermüdeten
Menschen, dem Aussehen nach ein armer Mann
Weitere Kostenlose Bücher