Ivo Andric
wenn sie
sich auf dem Wege über die Brücke ausruhen wollen, oder die Müßiggänger stützen
sich mit ihrem Rücken und den Ellbogen bei der Unterhaltung auf, wenn sie
jemanden erwarten oder wenn sie, einsam, auf die Arme gestützt, auf das Wasser
in der Tiefe unter sich schauen, wie es schäumend und schnell forteilt, immer
neu und doch immer das gleiche.
Aber niemals hatte sich soviel
müßiges und neugieriges Volk auf die Brüstung gestützt und auf die Wasserfläche
geschaut, als läse und enträtsele es sie, wie in den letzten Tagen im August
jenes Jahres. Das Wasser war trübe vorn Regen, obgleich der Sommer erst zu Ende
ging. In den Strudeln unter den Bögen bildete sich weißer Schaum und drehte
sich, gemeinsam mit kleinen Zweigen und Holzsplittern, im Kreise. Den Kopf in
die Hand gestützt, blickten die müßigen Städter aber eigentlich gar nicht in
diesen Fluß, den sie von jeher kannten und der ihnen nichts Neues zu sagen
hatte; sie suchten vielmehr auf der Wasserfläche wie auch in ihren Gesprächen
eine Erklärung und etwas wie eine sichtbare Spur eines unklaren und schweren
Schicksals, das sie in diesen Tagen alle überrascht und verwirrt hatte.
Zu dieser Zeit ereignete sich hier
auf der Kapija etwas, das man nicht vergißt und das sich vielleicht nicht
wiederholen wird, solange es an der Drina eine Brücke und eine Stadt gibt.
Dieses Ereignis erregte und erschütterte die Stadt und ging weiter, in andere
Orte und Landstriche, wie eine Sage durch die Welt geht.
Dies ist eigentlich eine Erzählung
von zwei Wischegrader Weilern, vom Welji Lug und Nesuke. Diese zwei Weiler
liegen an den beiden entgegengesetzten Enden jenes Amphitheaters, das die
dunklen Berge und grünen Hügel um die Stadt bilden.
Die große Landgemeinde
Straschischte, an der Nordostseite des Tales, liegt der Stadt am nächsten: ihre
Häuser, Äcker und Gärten sind über einige Hügel verstreut und in die Täler
eingefügt, die von diesem Hügel geteilt werden. Auf dem sanft gewölbten
Sattel eines dieser Hügelchen stehen einige fünfzehn Häuser, versteckt zwischen
Pflaumengärten und rings von Äkkern umgeben. Das ist der Weiler Welji Lug,
eine stille, schöne und reiche Türkensiedlung auf der Anhöhe. Der Weiler gehört
zur Landgemeinde Straschischte, aber er liegt näher zur Stadt als zu seiner
Gemeinde, denn die Leute vom Welji Lug sind in einer halben Stunde unten in der
Stadt, wo sie, wie die übrigen Städter, ihre Lagerräume und Läden haben.
Zwischen ihnen und den richtigen Städtern gibt es auch keinen Unterschied, es
sei denn, daß ihr Besitz dauerhafter und sicherer ist, weil er auf festem,
fruchtbarem Boden liegt und nicht überschwemmt wird, die Menschen aber
bescheidener und zurückhaltender sind, ohne die schlechten Gewohnheiten der
Stadt. Der Welji Lug hat guten Boden, gesundes Wasser und schöne Menschen.
Hier lebt auch ein Zweig der
Wischegrader Osmanagitsch. Wenn auch die in der Stadt die wohlhabenderen und
zahlreicheren sind, so meint man doch im Volke, daß sie »heruntergekommen«
und daß die wahren Osmanagitsch die vom Welji Lug sind, wo auch ihr Ursprung
ist. Sie sind ein schöner Menschenschlag, empfindlich und stolz auf ihre
Herkunft. Ihr Haus ist jenes größte, das unmittelbar unter dem Hügel, gegen
SüdWesten gekehrt, stets frisch gekalkt, mit einem Dach aus geschwärzten
Schindeln und vierzehn Glasfenstern weiß hinüberschaut. Dieses Haus sieht man
schon von weitem, und es ist das erste, das dem Reisenden in die Augen fällt,
wenn er den Weg nach Wischegrad hinunterkommt oder wenn er sich beim Fortgang
umwendet. Die letzten Strahlen der Sonne, die hinter den Lijeskaer Bergen
untergeht, fangen und brechen sich immer am weißen und leuchtenden Gesicht
dieses Hauses. Und die Städter sind seit langem daran gewöhnt, abends von der
Kapija zu betrachten, wie sich der Sonnenuntergang in Osmanagitschs Fenstern
spiegelt, wie sie dann eines nach dem anderen erlöschen und wie häufig, wenn
die Sonne bereits gesunken und die Stadt im Schatten liegt, noch eines dieser
Fenster in einem letzten, zwischen den Wolken verirrten Abglanz leuchtet und
noch einige Augenblicke als ein roter, großer Stern über der erloschenen Stadt
strahlt.
Ebenso bekannt und angesehen ist
auch der Herr dieses Hauses, Awdaga Osmanagitsch, ein feuriger, jäher Mann im
Leben wie in seinen Geschäften. Er hat ein »Magazin« in der Stadt, einen
niedrigen, dämmerigen Raum, in dem auf Brettern und geflochtenen Gestellen
Mais,
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