Ivo Andric
ohne Anhang, machte einen Augenblick
auf der Kapija halt, trank sich reichlich am Wasser satt und nahm die
angebotene Zigarette. Er war ganz weiß vom Straßenstaub, seine Augen glänzten
wie im Fieber, und sein Blick fand auf keinem einzigen Gegenstand Ruhe. Gierig
den Rauch einziehend, sah er mit diesem glänzenden, unangenehmen Blick um
sich, ohne etwas auf die ängstlichen und höflichen Fragen einzelner zu
antworten. Er strich nur über seinen langen Schnurrbart, dankte kurz, und mit
der Bitterkeit, die Ermüdung und das Gefühl des Alleinseins in einem Menschen
hinterlassen, sagte er einige Worte, während er sie alle mit einem Blick umfaßte,
der nichts sah:
»Ihr sitzt hier und treibt euren
Scherz und wißt gar nicht, was da hinter Stanischewatz vorgeht. Wir sind hier
in türkisches Land geflüchtet, aber wohin werdet ihr mit uns zusammen flüchten,
wenn auch Bosnien an die Reihe kommt? Das weiß noch niemand, und es denkt auch
noch keiner von euch daran.«
Hier unterbrach der Mann mit einem
Male seine Rede. Was er gesagt hatte, das war zugleich viel für diese bis vor
kurzem sorglosen Menschen und wenig für seine Erbitterung, die ihn weder hatte
schweigen lassen noch ihm gestattete, sich klar auszudrücken. Er unterbrach
selbst das unangenehme Schweigen, verabschiedete sich mit einem Danke und
eilte, den Zug wieder einzuholen. Alle riefen ihm laut gute Wünsche nach.
An diesem ganzen Abend blieb auf der
Kapija eine gedrückte Stimmung zurück. Alle waren düster und schweigsam. Sogar
Tschorkan saß stumm und reglos auf einer der steinernen Stufen. Um ihn herum
lagen verstreut die Schalen der Melonen, die zu essen er gewettet hatte. Den
Kopf hatte er traurig in die Hände gestützt, den Blick gesenkt und vertieft,
als blicke er nicht auf den Stein vor sich, sondern in irgendeine weite, kaum
erkennbare Ferne. Die Leute gingen früher auseinander als sonst.
Aber schon am nächsten Tage war
alles wieder beim alten, denn die Städter liebten es nicht, das Schlechte zu
behalten und sich im voraus Sorgen zu machen; in ihrem Blute trugen sie die
Erkenntnis, daß das wahre Leben nur aus den Windstillen besteht und daß es
wahnwitzig und vergeblich wäre, diese seltenen Windstillen auf der Suche nach
einem anderen, festeren und stetigeren Leben zu trüben, das es nicht gibt.
In diesen fünfundzwanzig Jahren um
die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wütete zweimal in Sarajewo die Cholera
und einmal die Pest. In diesen Fällen hielt sich die Stadt an die Anweisungen,
die nach der Überlieferung Mohammed seinen Gläu bigen für das Verhalten
während einer Seuche gegeben hatte: »Solange die Krankheit an einem Orte
herrscht, gehet nicht dorthin, denn ihr könntet euch anstecken; seid ihr aber
am Orte, wo die Krankheit herrscht, gehet nicht fort aus diesem Ort, denn ihr
könntet andere anstecken.« Aber da sich die Menschen auch an die heilsamsten
Lehren selbst dann nicht halten, wenn sie vom Abgesandten Gottes ausgehen,
falls sie nicht durch die »Kraft der Obrigkeit« dazu gezwungen werden,
beschränkte oder unterbrach die Regierung, sobald eine Seuche ausbrach, völlig
jeglichen Post- und Reiseverkehr. Dann änderte auch das Leben auf der Kapija
sein Aussehen. Die geschäftigen oder müßigen, nachdenklichen oder singenden
Städter verschwanden, und auf dem gleichen Sofa saßen wiederum, wie zur Zeit
der Aufstände und Kriege, eine Wache von einigen Soldaten. Sie hielten die
Reisenden an, die aus Sarajewo kamen, und wiesen sie durch Winken mit den
Gewehren und laute Zurufe zurück. Von den Reitern nahmen sie die Post an, aber
mit allen Vorsichtsmaßregeln. Auf der Kapija brannte dann ein kleines Feuer
aus »aromatischen Hölzern«, das einen starken, weißen Rauch entwickelte. Die
Soldaten ergriffen jeden einzelnen Brief mit einer Zange und hielten ihn in
diesen Rauch. Erst die so entseuchten Briefe wurden weitergeleitet. Waren
wurden überhaupt nicht angenommen. Aber die Hauptarbeit hatten sie nicht mit
den Briefen, sondern mit den lebendigen Menschen. Jeden Tag erschienen ein paar
von ihnen, Reisende, Händler, Boten und Landstreicher. Schon beim Zugang zur
Brücke erwartete sie ein Posten und gab ihnen bereits vom weitem ein Zeichen,
daß es nicht weiter gehe. Der Reisende blieb stehen, begann aber zu verhandeln,
sich zu rechtfertigen und seinen Fall zu erläutern. Und jeder von ihnen meinte,
man müsse ihn unbedingt in die Stadt lassen, jeder versicherte, er sei
kerngesund und habe nicht das geringste mit
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