Ivo Andric
der Cholera – »möge sie
fernbleiben!« – dahinten irgendwo in Sarajewo zu tun. Bei diesen Erklärungen
kommen die Reisenden nach und nach bis zur Mitte der Brücke und nähern sich der
Kapija. Dort mischen sich auch die übrigen Soldaten in das Gespräch, und,
während sie so in einem Abstand von ein paar Schritten sprechen, schreien sie
alle laut und winken mit den Händen. Die Soldaten schreien schon deshalb, weil
sie den ganzen Tag auf der Kapija sitzen, Raki trinken und Knoblauch essen; ihr
Dienst gibt ihnen das Recht dazu, denn es heißt, daß diese beiden Dinge gut
gegen die Seuche sind; und sie machen von diesem Recht ausgiebig Gebrauch.
Mancher Reisende wird es müde, die
Soldaten zu betteln und zu überzeugen, und kehrt unverrichteter Dinge,
niedergeschlagen den Weg über Okolischte zurück. Es gibt aber auch Ausdauernde
und Angriffslustige, die stehen dann stundenlang auf der Kapija und lauern auf
einen Augenblick der Schwäche und Unaufmerksamkeit oder hoffen auf irgendeinen
glücklichen Zufall. Wenn zufällig der Vorgesetzte der Stadtsoldaten, Salko
Hedo, da ist, dann besteht keine Aussicht, daß die Reisenden irgend etwas
erreichen. Hedo ist jene wahre, geheiligte Obrigkeit, die den, mit dem sie
spricht, gar nicht richtig sieht oder hört und sich mit ihm nur soviel befaßt,
wie nötig, um ihm den Platz anzuweisen, der ihm nach den bestehenden
Vorschriften und Bestimmungen zukommt. Während er dies tut, ist er blind und
taub, und wenn er damit fertig ist, dann wird er auch stumm. Vergeblich
beschwört und umschmeichelt ihn der Reisende.
»Salihaga, gesund bin ich...«
»Na, dann geh nur mit deiner
Gesundheit wieder dahin, woher du gekommen bist. Los, scher dich!«
Mit Hedo gibt es kein weiteres
Gespräch. Sind aber die jüngeren Soldaten allein, dann läßt sich noch etwas
erreichen. Je länger der Reisende auf der Brücke steht und je mehr er ihnen
zuschreit, mit ihnen streitet, spricht und ihnen von seinen Sorgen erzählt,
auch von der, um deretwillen er auf diese Reise gegangen, und von allen übrigen
Sorgen seines Lebens, um so mehr kommt er ihnen irgendwie näher und wird ihnen
bekannter, und um so weniger gleicht er einem Menschen, der die Cho lera
haben könnte. Schließlich bietet sich einer der Soldaten an, er würde in der
Stadt die Bestellung des Reisenden dem ausrichten, den sie angehe. Das ist der
erste Schritt zum Nachgeben. Aber der Reisende weiß, daß sich sein Geschäft
nicht mit einer Bestellung erledigen läßt und daß die Soldaten in ihrem
jetzigen Zustand, ständig benebelt oder halb betrunken, viele Bestellungen
schwer behalten und falsch ausrichten. Daher zieht er das Gespräch hin, bittet,
bietet Geld an, beruft sich auf Gott und die Welt. Solange, bis der von den
Soldaten, den er als den weichsten erspäht, allein auf der Kapija bleibt. Dann
wird die Angelegenheit irgendwie bereinigt. Der einsichtsvolle Soldat wendet
sein Gesicht jener erhöhten Mauer zu, als läse er die alte Aufschrift an ihr,
die Hände legt er auf den Rücken und streckt den Handteller der rechten Hand
aus. Der ausdauernde Reisende schiebt dem Soldaten das verabredete Geld auf den
Handteller, späht nach rechts und links, gleitet über die andere Hälfte der
Brücke und verliert sich in der Stadt. Der Soldat kehrt wieder auf seinen Platz
zurück, vertilgt Knoblauch und begießt ihn mit Raki. Das erfüllt ihn mit einer
sorglosen und frohen Entschlossenheit und gibt ihm die Kraft, zu wachen und die
Stadt vor der Cholera zu schützen.
Aber die Nöte dauern nicht ewig –
und dies haben sie mit den Freuden gemein –, sondern sie gehen vorüber, oder
sie lösen einander ab und geraten in Vergessenheit. Das Leben auf der Kapija
erneuert sich immer und allem zum Trotz, und die Brücke ändert sich nicht mit
den Jahren, noch mit den Jahrhunderten oder mit den schmerzlichsten Änderungen
der menschlichen Beziehungen. Alles dies geht über sie ebenso hinweg, wie das
unruhige Wasser unter ihren glatten und formvollendeten Bögen dahinfließt.
8
Es waren nicht nur Kriege, Seuchen und
Flüchtlingszüge, die zu dieser Zeit die Brücke trafen. Das Leben auf der Kapija
unterbrachen auch andere, außergewöhnliche Ereignisse, nach denen man später
das Jahr, in dem sie geschehen, benannte und lange in der Erinnerung bewahrte.
Links und rechts der Kapija ist die
steinerne Brüstung seit langem blankgeschliffen und etwas dunkler als die
übrigen Teile. Seit Jahrhunderten setzen hier die Bauern ihre Last ab,
Weitere Kostenlose Bücher