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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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sich Brücke und Stadt vorsichtig zu nähern. Auf die Kapija kamen
langsamen Schrittes, das Gewehr im Anschlag, ungarische Honved-Soldaten.
Unschlüssig hielten sie vor dem verkrampften Hodscha, der aus Furcht vor den
Granaten, die über seinen Kopf hinwegheulten, für einen Augenblick den Schmerz
seines festgenagelten Ohres vergessen hatte. Als er die verhaßten Soldaten
mit gefälltem Gewehr sah, begann er schmerzhaft und gedehnt zu stöhnen, denn
er rechnete damit, daß dies eine Sprache sei, die jeder verstehe. Das rettete
ihn davor, von den Honveds erschossen zu werden. Während die einen Schritt für
Schritt über die Brücke vorrückten, blieben andere bei ihm stehen und
betrachteten ihn aus der Nähe, ohne seine Stellung zu begreifen. Erst als ein
Sanitäter kam, fanden sie eine Zange, zogen vorsichtig den Nagel heraus (es war
einer, wie man sie zum Beschlagen der Pferde nimmt) und befreiten Alihodscha.
Steif und ermüdet, wie er war, sank er auf die steinernen Stufen und stöhnte
und ächzte. Der Sanitäter bestrich ihm das verletzte Ohr mit einer Flüssigkeit,
die brannte. Durch seine Tränen sah der Hodscha, wie in einem ungewöhnlichen
Traum, auf dem linken Arm des Soldaten ein breites weißes Band und auf ihm ein
großes Kreuz aus rotem Stoff. Nur im Fieber kann man so entsetzliche und
furchtbare Traumgesichte haben. Dieses Kreuz schwamm und tanzte in seinen
Tränen und verdeckte ihm, wie eine Spukerscheinung, seinen Gesichtskreis. Dann
verband ihm der Soldat die Wunde und wickelte ihm darüber den weißen
Hodschaturban. Mit so eingewickeltem Kopfe, im Kreuz zerbrochen, richtete sich
der Hodscha auf und blieb einige Augenblicke, auf die steinerne
Brückeneinfassung gestützt, stehen. Nur schwer beruhigte und sammelte er sich.
Ihm gegenüber, auf der anderen Seite der Kapija, unmittelbar unter der
türkischen Inschrift auf dem Stein, klebte ein Soldat ein großes, weißes Papier
an. Obgleich ihm der Kopf vor Schmerzen dröhnte, konnte der Hodscha seine
angeborene Neugierde, das Plakat zu betrachten, nicht überwinden. Es war der
Aufruf des Generals Filipowitsch, des Oberbefehlshabers der österreichischen
Besatzungstruppen, in serbischer und türkischer Sprache, an die Bevölkerung von
Bosnien und der Herzegowina zum Einmarsch der österreichischen Truppen. Mit
dem rechten Auge blinzelnd, buchstabierte Alihodscha den Text in türkischer
Sprache, aber nur die Sätze, die in Fettdruck hervorgehoben waren.
    »Bewohner von Bosnien und der Herzegowina!
    Die Truppen des Kaisers von
Österreich und Königs von Ungarn sind im Begriffe, die Grenzen Eueres Landes zu
überschreiten.
    Sie kommen nicht als Feinde, um sich
dieses Landes gewaltsam zu bemächtigen.
    Sie kommen als Freunde, um den Übeln
ein Ende zu bereiten, welche seit einer Reihe von Jahren nicht nur Bosnien und
die Herzegowina, sondern auch die angrenzenden Länder von Österreich-Ungarn
beunruhigen.«
    -----
    »Der Kaiser und König konnte nicht
länger ansehen, wie Gewaltthätigkeit und Unfriede in der Nähe Seiner Provinzen
herrschten – wie Noth und Elend an die Grenzen Seiner Staaten pochten.
    Er hat das Auge der europäischen
Staaten auf Euere Lage gelenkt, und im Congresse zu Berlin wurde einstimmig
beschlossen, daß Österreich-Ungarn Euch die Ruhe und Wohlfahrt wiedergebe,
die Ihr so lange entbehrt.
    Seine Majestät, der Sultan, von dem
Wunsche für Euer Wohl beseelt, hat sich bewogen gefunden, Euch dem Schutze
Seines mächtigen Freundes, des Kaisers und Königs, anzuvertrauen.«
    ----
    »Der Kaiser und König befiehlt, daß
alle Söhne dieses Landes gleiches Recht nach dem Gesetze genießen, daß sie Alle
geschützt werden in ihrem Leben, ihrem Glauben, ihrem Hab und Gut.«
    ----
    »Bewohner
von Bosnien und der Herzegowina!
    Begebt Euch mit Vertrauen unter den
Schutz der glorreichen Fahnen von Österreich-Ungarn.
    Empfanget unsere Soldaten als
Freunde– gehorchet der Obrigkeit, nehmt Euere Beschäftigung wieder auf, und
Ihr sollt geschützt sein in den Früchten Euerer Arbeit.«
    Der Hodscha las stockend, Satz für Satz, er
verstand nicht jedes Wort, aber jedes flößte ihm Schmerz ein; einen ganz besonderen
Schmerz, völlig anders dem, den er in seinem verletzten Ohr, im Kopf und im
Rücken spürte. Erst jetzt, nach diesen Worten, den »Worten des Kaisers«, war
ihm mit einem Male klar, daß es aus war mit ihm, mit all den Seinen und allem,
was ihnen gehörte, aus für immer, aber auf eine sonderbare Art: die Augen sahen
weiter, der Mund

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