Ivo Andric
sprach, man lebte weiter, aber das Leben, jenes wahre Leben,
gab es nicht mehr. Ein fremder Herrscher hatte die Hand auf sie gelegt und ein
fremder Glaube sie überwältigt. Das ging klar hervor aus diesen großen Worten
und unklaren Versprechungen und noch mehr aus jenem bleiernen Schmerz in der
Brust, der heftiger und schwerer war als irgendein menschlicher Schmerz, den
man sich vorstellen kann. Und Tausende solcher Narren wie dieser Osman Karamanli
konnten weder helfen noch etwas daran ändern. (So stritt der Hodscha in seinem
Inneren noch immer.) »Alle werden wir unser Leben hingeben!« – »Bis zum letzten
Mann werden wir kämpfen!« Was nützen alle diese großen Worte, wenn nun eine
solche Zeit anbricht, wo der Mensch so hinsiecht, daß er weder leben noch
kämpfend sterben kann, sondern wie ein Balken in der Erde verfault und jedem
gehört, nur nicht sich selbst. Das ist das wahre, große Elend, das diese
Karamanlis nicht sehen und nicht begreifen und mit ihrer Verständnislosigkeit
nur noch schwerer und schändlicher machen.
In diesen Gedanken ging Alihodscha
langsam von der Brücke. Und er bemerkte nicht, daß ihn der Sanitäter
begleitete. Es schmerzte ihn das Ohr, aber mehr noch drückten ihn die Worte des
Kaisers, als hätte sich eine der bleiernen und bitteren Kanonenkugeln der
Österreicher mitten in seine Brust gesenkt. Er ging langsam, und es schien ihm,
als würde er niemals wieder auf das andere Ufer gelangen, als sei diese Brücke,
die Zierde der Stadt und seit ihrem Bestehen auf das engste mit seiner Familie
verknüpft, auf der er aufwuchs und neben der er ein Menschenleben verbrachte,
plötzlich in der Mitte, dort bei der Kapija zerbrochen, als sei sie durch das
große weiße Papier des' schwäbischen Aufrufs in der Mitte wie von einer
lautlosen Explosion zerrissen worden, als klaffe dort ein Abgrund und ständen
nur noch einzelne Pfeiler rechts und links dieses Einschnittes, als gäbe es
keinen Übergang mehr, denn die Brücke verband ja nicht mehr zwei Ufer, und
jeder müsse für ewig auf der Seite bleiben, auf der er sich in diesem
Augenblick zufällig befunden. Langsam ging Alihodscha in seinen
Fiebervorstellungen, er bewegte sich wie ein Schwerverwundeter, und seine Augen
füllten sich unaufhörlich mit Tränen. Er ging schwankend, als sei er ein
Bettler, der, gebrechlich, zum ersten Male die Brücke überschreitet und eine
fremde, unbekannte Stadt betritt. Der Klang von Stimmen ließ ihn
zusammenzucken. Einige Soldaten gingen an ihm vorüber. Unter ihnen erblickte er
wieder das gutmütige und freundliche Gesicht dessen mit dem roten Kreuz auf
dem Arm, der ihn befreit. Freundlich lächelnd, zeigte der Soldat auf seinen
Verband und fragte ihn etwas in einer unverständlichen Sprache. Der Hodscha
glaubte, er biete ihm noch irgendwelche Hilfe an, und wurde sofort steif und
abweisend: »Es geht schon, es geht. Ich brauche niemanden.«
Und lebhafteren, entschlosseneren
Schrittes ging er weiter, seinem Hause zu.
10
Der feierliche und amtliche Einzug der
österreichischen Truppen war erst am nächsten Tage.
Nie hatte eine solche Ruhe über der
Stadt gelegen. Die Läden wurden nicht geöffnet. Fenster und Türen der Häuser
waren geschlossen, obgleich es ein sonniger und heißer Tag gegen Ende August
war. Die Gassen verödet, Höfe und Gärten wie ausgestorben. In den türkischen
Häusern Niedergeschlagenheit und Verlegenheit, in den christlichen Vorsicht und
Mißtrauen. Überall aber und bei allen Furcht. Die einrückenden Schwaben fürchten
einen Hinterhalt. Die Türken fürchten sich vor den Schwaben, die Serben vor
Schwaben und Türken. Die Juden fürchten sich vor allem und vor jedem, denn
besonders in Kriegszeiten ist jeder stärker denn sie. Allen dröhnt noch das
gestrige. Schießen der Artillerie in den Ohren. Und wären die Menschen nur
ihrer eigenen Angst gefolgt, dann hätte keine Menschenseele an diesem Tage auch
nur den Kopf aus dem Hause herausgesteckt. Aber der Mensch hat auch noch
andere Herren über sich. Die österreichische Abteilung, die gestern in die
Stadt eingerückt war, suchte den Polizeihauptmann, den Mulasim und seine Polizisten
auf. Der Offizier, der diese Abteilung befehligte, beließ dem Mulasim seinen
Säbel und befahl ihm, seinen Dienst auch weiter zu versehen und die Ordnung in
der Stadt aufrechtzuerhalten. Es wurde ihm mitgeteilt, daß der Kommandant, ein
Oberst, am nächsten Tage, eine Stunde vor Mittag, eintreffen werde und daß ihn
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