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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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Männer der Stadt, und zwar die Vertreter der drei
Konfessionen, an der Brücke zu empfangen hätten.Der grauköpfige und
resignierte Mulasim berief sofort den Mullah Ibrahim, Huseinaga, den Muderis 16 ,
den Popen Nikola und den Rabbiner David Levy und eröffnete ihnen, daß sie als
»die geistlichen Würdenträger und ersten Männer« den österreichischen
Kommandanten am nächsten Mittag auf der Kapija empfangen, ihn im Namen der
Bürgerschaft begrüßen und bis in die Stadt geleiten müßten.
    Lange vor der festgesetzten Zeit
trafen sich die vier »Würdenträger« auf dem verlassenen Marktplatz und gingen
langsamen Schrittes auf die Kapija. Dort hatte schon Salko Hedo, der Gehilfe
des Mulasim, mit einem Polizisten einen langen, leuchtend bunten türkischen
Teppich ausgebreitet und mit ihm die Stufen und die Mitte der steinernen Bank
bedeckt, auf der der österreichische Kommandant sitzen sollte. Einige Zeit
standen sie dort, feierlich und schweigend; als sie aber sahen, daß nirgendwo
auf dem weißen Wege vom Okolischte herab auch nur eine Spur des Kommandanten zu
erblicken war, schauten sie einander an, und wie auf Verabredung setzten sie
sich auf den unbedeckten Teil der steinernen Bank. Pope Nikola zog einen großen
ledernen Tabaksbeutel hervor und bot auch den anderen an.
    Nun saßen sie auf dem Sofa wie
einst, da sie jung und sorglos waren und wie alle Jugend ihre Zeit auf der
Kapija verbrachten. Nur waren sie jetzt schon alle bei Jahren. Pope Nikola und
Mullah Ibrahim waren alt, der Muderis und der Rabbiner reife Männer, alle
feiertäglich gekleidet, und jeder erfüllt von Sorgen um sich und um die
Seinen. Sie betrachteten einander lange und eingehend in der grellen
Sommersonne, und jeder erschien dem anderen zu stark gealtert und zu verbraucht
für seine Jahre. Jeder erinnerte sich des anderen, wie er in der Jugend oder
Kindheit gewesen, als sie neben dieser Brücke aufgewachsen, ein jeder in seiner
Generation ein grünes Holz, von dem man noch nicht weiß, was aus ihm werden
wird.
    Sie rauchten und sprachen über das
eine, in ihren Gedanken aber wälzten sie das andere und blickten jeden
Augenblick zum Okolischte, wo sich der Kommandant zeigen sollte, von dem nun
alles abhing und der für sie und ihre Gemeinde und für die ganze Stadt Gutes
wie Böses, Beruhigung oder neue Gefahren bringen konnte.
    Pope Nikola war zweifellos der
ruhigste und gesammeltste von den vieren, zumindest schien es so. Er hatte
schon die Siebzig überschritten, aber er war noch immer rüstig und stark. Ein
Sohn des berühmten Popen Mihajlo, den die Türken auf dieser gleichen Brücke
enthaupteten, hatte Pope Nikola eine unruhige Jugend gehabt. Ein paarmal war er
nach Serbien geflohen und hatte sich vor dem Haß und der Rache einiger Türken
verborgen. Durch seine unbändige Natur und seine Haltung gab er auch Anlaß zu
Haß und Rachsucht. Als aber die unruhigen Jahre vorüber waren, da setzte sich der
Sohn des Popen Mihajlo in die väterliche Pfarre, heiratete und beruhigte sich
(»Schon seit langem bin ich zur Vernunft gekommen, und auch unsere Türken sind
zahmer geworden«, sagte Pope Nikola im Scherz). Schon fünfzig Jahre sind es
her, seitdem Pope Nikola nun seiner ausgedehnten, verstreuten und schwierigen
Pfarre an der Grenze vorsteht, ruhig und weise, ohne andere größere Erschütterungen
und Mißgeschicke als die, welche das Leben selbst mit sich bringt, mit der
Hingabe eines Dieners und der Würde eines Fürsten, immer gerade und
gleichmäßig, zu den Türken, zum Volk und zu den Behörden.
    Weder vor noch nach ihm hatte es
jemals unter den Städtern einen Mann gegeben, der so sehr die allgemeine
Achtung genoß und ohne Unterschied des Glaubens, des Geschlechtes und der
Jahre ein solches Ansehen besaß wie dieser Pope, den sie alle seit alters her
»Großvater« nannten. Für die ganze Stadt und den ganzen Kreis ist er die
Verkörperung der serbischen Kirche und alles dessen, was das Volk als
Christentum bezeichnet und ansieht. Und noch mehr, das Volk sieht in ihm das
Urbild des Priesters und des Ältesten überhaupt, so wie es sich ihn in dieser
Stadt und unter solchen Verhältnissen vorstellt.
    Er ist ein Mann von hoher Gestalt
und ungewöhnlicher Körperkraft, nicht besonders schreibkundig, aber mit weitem
Herzen, gesundem Verstand und einem heiteren und freien Geist. Sein Lächeln
entwaffnet, beruhigt und ermutigt; es ist das unbeschreibliche und
unschätzbare Lächeln eines kraftvollen, edlen Menschen, der mit sich

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