Ivo Andric
der
Dämmerung, die sich herabsenkte. Schließlich zeigte sich statt des Mädchens die
Ablösung. Aber dieses Mal kamen nicht nur die zwei Streifkorpsmänner, die auf
Wache sollten, sondern mit ihnen kam auch Wachtmeister Draschenowitsch
persönlich, ein strenger Mann, mit kurzem, schwarzem Bart. Er befahl Fedun und
Stewan mit einer bösen und scharfen Stimme, sie sollten sich in der Kaserne
sofort in den Schlafsaal begeben und diesen ohne neuen Befehl nicht verlassen.
Fedun stieg das Blut zu Kopfe beim Gedanken an eine unbestimmte Schuld.
Der große und kalte Schlafsaal mit
seinen zwölf an einer Seite aufgestellten Betten war leer. Die Mannschaften
waren zum Abendessen oder in der Stadt. Fedun und Stewan warteten, verwirrt
und ungeduldig, grübelnd und vergeblich suchend, warum sie der Wachtmeister so
streng und unerwartet eingesperrt. Nach einer Stunde, als die ersten Soldaten
zum Schlafen heraufkamen, stürmte ein Unteroffizier mit finsterer Miene herein
und befahl ihnen laut und scharf, mit ihm zu kommen. An allem fühlten sie, wie
die Strenge ihnen gegenüber zunahm und alles zusammen nach nichts Gutem aussah.
Sobald sie hinausgeführt waren, trennte man sie und begann, sie einzeln zu
verhören.
Die Nacht rückte weiter. Es kamen
die Stunden, da auch das letzte Licht in der Stadt erlosch, aber die Fenster in
der Kaserne waren noch alle gleichmäßig erleuchtet. Von Zeit zu Zeit hörte man
die Klingel am Tor, das Klappern von Schlüsseln und das Zuschlagen schwerer
Türen. Ordonnanzen kamen und gingen und eilten durch die dunkle und schlafende
Stadt zwischen Kaserne und Amtsgebäude, in dessen oberem Stockwerk auch noch
die Lampen brannten, hin und her. Schon an diesen äußeren Zeichen konnte man
sehen, daß in der Stadt etwas Ungewöhnliches vorging.
Als sie Fedun gegen elf Uhr in das
Büro des Rittmeisters führten, schien es ihm, als seien Tage und Wochen seit
dem, was auf der Kapija geschah, vergangen. Auf dem Tisch brannte eine metallene
Petroleumlampe mit einem grünen Porzellanschirm. Neben ihr saß Rittmeister
Kretschmar. Seine Hände waren bis zu den Ellenbogen beleuchtet, während
Oberkörper und Kopf im Schatten des grünen Schirmes lagen. Der junge Bursche
kannte dieses bleiche und volle, fast weibische, bartlose Gesicht mit dem kaum
sichtbaren kleinen Schnurrbärtchen und dunklen Augenringen, die um die grauen
Augen in regelmäßigen Kreisen lagen. Diesen starken und ruhigen Offizier mit
seinen langsamen Worten und schweren Bewegungen fürchtete man im Streifkorps
wie das Feuer. Es gab nur wenige Menschen, die den Blick dieser großen grauen
Augen lange aushalten konnten und die nicht stotterten, wenn sie auf seine
Fragen antworteten, bei denen jedes Wort ruhig, aber abgehackt, losgelöst und
klar von der ersten bis zur letzten Silbe ausgesprochen wurde, wie in der
Schule oder auf dem Theater. Ein wenig abseits vom Tisch stand Wachtmeister
Draschenowitsch. Auch sein Oberkörper war ganz im Schatten, nur seine Hände
waren grell beleuchtet; lose herabhängende, behaarte Hände; auf einer von
ihnen glänzte ein breiter goldener Trauring.
Draschenowitsch stellte Fragen.
»Sagen Sie uns, wie Sie die Zeit von
fünf bis sieben Uhr verbracht haben, als Sie mit dem Streifkorps-Hilfsbeamten
Stewan Kalatzan auf der Kapija im Wachtdienste waren?«
Fedun schoß das Blut zu Kopfe. Jeder
verbringt seine Zeit so gut er vermag und versteht, aber niemand denkt dabei
daran, daß er sich später vor einem strengen Gericht verantworten und über
alles Geschehene bis in die kleinsten Einzelheiten, bis zu den verstecktesten
Gedanken und bis zur letzten Minute, Rechenschaft ablegen muß. Niemand, am
allerwenigsten aber, wenn jemand dreiundzwanzig Jahre alt ist und die Zeit im
Frühling auf der Kapija verbrachte. Was sollte er antworten? Auf Posten sind
die zwei Stunden wie immer vergangen, wie gestern und vorgestern. Aber in
diesem Augenblick konnte er sich an nichts Alltägliches und Gewöhnliches
erinnern, das er hätte sagen können. Vor seiner Erinnerung reihten sich nur
nebensächliche und unerlaubte Dinge aneinander, die jedem geschehen, die man
aber Vorgesetzten nicht zu sagen pflegt: daß Stewan nach seiner Gewohnheit
geschlummert; daß er, Fedun, ein paar Worte mit einem unbekannten türkischen
Mädchen gewechselt; daß er danach mit herabsinkender Dämmerung leise und
hingerissen alle Lieder seiner Heimat gesungen und auf die Rückkehr des
Mädchens und mit ihr auf etwas Erregendes und Ungewöhnliches
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