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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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Bergen und der ersten Knospen aus den Tälern. Alles
das berauschte und zerstreute Fedun, der den Raum von einer Terrasse zur
anderen abmaß oder, wenn er nachts auf Posten stand, sich an die Mauer lehnte
und mit dem Wind seine kleinrussischen Lieder summte. Weder bei Tag noch in der
Nacht verließ ihn aber das Gefühl, daß er irgend jemanden erwarte, ein Gefühl,
das zugleich quälend und schön war und gleichsam in allem, was auf dem Wasser,
auf der Erde und am Himmel geschah, seine Bestätigung fand.
    Eines Tages, etwa um die
Mittagszeit, kam an der Wache ein türkisches Mädchen vorüber. Sie war in den
Jahren, in denen sich die mohammedanischen Mädchen noch nicht verschleiern,
aber auch nicht mehr völlig unverhüllt gehen, sondern sich in einen dünnen,
großen Schal, die Boschtscha, hüllen, die ihren ganzen Körper, Arme, Kinn und
das Haupt bedeckt, aber noch immer einen Teil des Gesichtes, Augen, Nase, Mund
und Wangen, freiläßt. Dies ist jene kurze Zeitspanne zwischen Kindheit und
Mädchentum, da das mohammedanische Mädchen züchtig und freudig den Liebreiz des
noch kindlichen, aber schon weiblichen Gesichtes zeigt, das vielleicht schon
morgen vom Schleier für immer verhüllt wird.
    Keine Menschenseele war auf der
Kapija. Mit Fedun war ein gewisser Stewan aus Pratsche auf Posten, einer der
Bauern aus dem Streifkorps. Dieser Mann in reiferen Jahren, dem Alkohol nicht
abhold, schlief, unvorschriftsmäßig auf dem steinernen Sofa sitzend.
    Fedun betrachtete das Mädchen
vorsichtig und furchtsam. Um sie schlang sich eine bunte Boschtscha, die in der
Sonne mit den Windstößen und dem Rhythmus des mädchenhaften Schrittes wie
lebend wogte und flatterte. Ein ruhiges und schönes Gesicht, fest und eng
eingerahmt vom zusammengezogenen Gewebe der Boschtscha. Die Augen gesenkt, aber
bewegt. So ging sie an ihm vorüber und verschwand über die Brücke in der Stadt.
    Der junge Bursche ging lebhafter von
einer Terrasse zur anderen und blickte ständig in Richtung zum Markt. Jetzt
schien es ihm, als habe er wirklich jemand, auf den er warte. Nach einer halben
Stunde – noch herrschte auf der Brücke mittägliche Stille – kehrte das
türkische Mädchen aus der Stadt zurück und ging wieder an dem verwirrten jungen
Burschen vorüber. Jetzt betrachtete er sie etwas länger und kühner, und, was
das Wunderbarste war, auch sie sah ihn an, mit einem kurzen, aber freien Blick,
von der Seite, leicht lächelnd, leicht verschlagen, aber mit jener heiteren
Verschlagenheit, mit der Kinder einander im Spiel täuschen. Langsam gehend,
aber sich doch schnell entfernend, mit tausend Bewegungen und Biegungen in der
weiten Boschtscha, in die ihre ganze junge, aber schon kräftige Gestalt
eingehüllt war, entschwebte sie. Die orientalischen Streifen und lebhaften
Farben ihrer Boschtscha zeigten sich noch lange zwischen den Häusern am anderen
Ufer.
    Erst jetzt rüttelte sich der junge
Bursche wach. Er stand noch an der gleichen Stelle und in der gleichen Haltung
wie in dem Augenblick, da sie an ihm vorüberging. Er riß sich los und blickte
mit dem Gefühl eines Menschen um sich, der irgend etwas verabsäumt hatte. In
der trügerischen Märzsonne schlummerte Stewan. Dem jungen Burschen schien es,
als seien sie beide irgendwie schuldig und als hätte eine ganze Kompanie in
dieser Zeit unbemerkt an ihnen vorübermarschieren können, die er selbst weder
ihrer Länge noch ihrer Bedeutung für sich und die übrige Welt nach hätte
abschätzen können. Da er sich schämte, weckte er Stewan mit übertriebenem
Eifer, und beide standen bis zur Ablösung weiter auf Posten.
    Den ganzen Tag über, in den
Ruhestunden, wie auf Posten, zog das türkische Mädchen wie eine Erscheinung
zahllose Male durch sein Bewußtsein. Am nächsten Tage aber, wiederum gegen
Mittag, als auf Brücke und Markt die wenigsten Menschen waren, kam sie in
Wirklichkeit wieder über die Brücke.
    Wie in einem Spiel, dessen Regeln er
nur zur Hälfte kannte, betrachtete Fedun wieder dieses von dem bunten Tuch
umrahmte Gesicht. Alles war genau wie gestern. Nur waren die Blicke länger,
das Lächeln lebhafter und kühner. Als habe er auf seine Art teil am Spiel,
schlief Stewan wieder auf der Steinbank und verschwor sich danach wieder, wie
gewöhnlich, er habe nicht geschlafen, und er könne nicht einmal des Nachts im
Bett auch nur ein Auge schließen. Bei der Rückkehr blieb das Mädchen fast
stehen und sah dem Streifkorpsmann gerade in die Augen. Er warf ihr zwei Worte
zu,

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