Ivo Andric
unklar und ohne Bedeutung. Dabei fühlte er, wie ihm die Füße vor Aufregung
schwach wurden, und vergaß völlig, wo er sich befand.
Das sind jene großen Kühnheiten, wie
wir sie nur im Traum vollbringen. Als sich das Mädchen wieder am anderen Ufer
verlor, erzitterte der junge Bursche vor Furcht. Es war unwahrscheinlich, daß
es ein türkisches Mädchen wagte, einen schwäbischen Soldaten anzublicken.
Etwas so Unerhörtes und noch nicht Dagewesenes konnte sich nur im Traum
ereignen, im Traum oder im Frühling auf der Kapija. Außerdem wußte er sehr
wohl, daß in diesem Lande und in seiner Stellung nichts so anstößig und
gefährlich war, wie eine mohammedanische Frau anzurühren. Davor hatte man ihn
beim Militär und auch jetzt beim Streifkorps gewarnt. Die Strafen für solche
Kühnheit waren schwer. Mancher aber zahlte den beleidigten und in Wut
gebrachten Türken mit seinem Leben. Alles dies wußte er und hatte auch den
ehrlichen Willen, sich an Ordnung und Vorschriften zu halten, aber dennoch
handelte er dagegen. Das Unglück der Unglücklichen liegt eben darin, daß ihnen
Dinge, die sonst unmöglich und verboten sind, für einen Augenblick zugänglich
und leicht werden oder wenigstens so scheinen. Haben sie sich aber einmal
ständig in ihre Wünsche eingenistet, dann zeigen sie sich wieder, wie sie
wirklich sind, unzugänglich und verboten, mit allen Folgen, die es für die
bringt, die sich dennoch erdreisten, nach ihnen zu greifen.
Auch am dritten Tage gegen Mittag
zeigte sich das türkische Mädchen. Und so, wie im Traum alles nach den
menschlichen Wünschen geht, als der einzigen Wirklichkeit, der sich alles
übrige unterordnet, schlief Stewan wieder, überzeugt und bereit, dem anderen
stets zu versichern, er habe die Augen keinen Augenblick geschlossen; und auf
der Kapija war kein weiterer Fußgänger. Der junge Bursche sprach sie wieder an,
er stotterte ein paar Worte, das Mädchen verlangsamte seinen Schritt und
antwortete ihm etwas ebenso Unklares und Schüchternes.
Dies gefährliche und
unwahrscheinliche Spiel ging fort. Am vierten Tag paßte das Mädchen beim
Vorübergehen wieder den Augenblick ab, da niemand auf der Kapija war, und
fragte den erglühenden jungen Burschen flüsternd, wann er das nächste Mal auf
Posten sein werde. Er sagte, daß er mit der ersten Dämmerung, etwa um die
Stunde Akscham, wenn der Muezzin zum Abendgebet ruft, wieder auf der Kapija
sein werde.
»Ich werde meine alte Großmutter in
die Stadt auf das Amt führen und allein zurückkommen«, flüsterte das Mädchen,
ohne haltzumachen und den Kopf zu wenden, und sah ihn dabei mit jenem schrägen
und sprechenden Blick an. Aber in jedem dieser alltäglichen Worte lag eine
versteckte Freude, daß sie ihn wiedersehen würde.
Sechs Stunden später war Fedun
wieder mit seinem schläfrigen Kameraden auf der Kapija. Nach dem Regen war eine
kühle Dämmerung hereingebrochen, die ihm voller Versprechungen erschien. Die
Vorübergehenden wurden immer seltener. Da zeigte sich auf dem Wege von
Osojnitza das türkische Mädchen, eingewickelt in ihre Boschtscha, deren Farben
die Dämmerung dämpfte. Neben ihr ging eine alte, gebeugte Türkin, vermummt in
ein schweres, schwarzes Übergewand. Es war, als ginge sie auf vier Füßen, denn
mit der rechten Hand stützte sie sich auf einen Stab und mit der linken auf den
Arm des Mädchens.
So gingen sie an Fedun vorüber. Das
Mädchen ging langsam und paßte ihren Schritt dem langsamen Gang der Greisin an,
die sie führte. Die Augen, die durch die Schatten der ersten Dämmerung noch
größer schienen, richtete sie jetzt frei und offen gerade in die Augen des
jungen Burschen, als könne sie sich nicht von ihm losreißen. Als sie in der
Stadt verschwunden waren, überlief den jungen Burschen ein Frösteln, und er
begann mit schnellen Schritten von einer Terrasse zur anderen zu gehen, als
wolle er wiedergutmachen, was er versäumt. Mit einer Erregung, die Furcht
gleichkam, wartete er jetzt auf die Rückkehr des Mädchens. Stewan döste.
Was wird sie mir im Vorübergehen
sagen? dachte der junge Bursche. Was soll ich ihr sagen? Vielleicht wird sie
mich auffordern, daß wir uns irgendwo des Nachts, an versteckter Stelle,
treffen? Er erschauerte vor Lust und der erregenden Gefahr, die in diesem
Gedanken lag.
Eine ganze Stunde verging im Warten,
es verging auch noch die Hälfte der zweiten, und das Mädchen kehrte nicht
zurück. Aber auch in diesem Warten lag Lust. Und die Lust wuchs mit
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