Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
sprang aus der Bank.
Doch Mr Mayfair war schneller. Er zog sein Schwert und stürzte sich auf ihn. Mit einer einzigen Bewegung, so schnell, dass Lily sie kaum wahrnehmen konnte, ließ er den Knauf der Waffe auf Tyes Kopf niedersausen.
Tye sackte auf dem Marmorfußboden zusammen.
Rose schrie und schrie und schrie.
»Kleiner Tölpel«, sagte Mr Mayfair verächtlich. Dann richtete er die Klinge auf Lilys Mutter. »Sei still!«
Rose verstummte.
»Ist er … «, begann Lily. Doch dann bemerkte sie, wie Tyes Brustkorb sich hob und senkte. Er lebte noch.
Ohne ein weiteres Wort nahm Mr Mayfair die Stricke und fesselte ihn wieder. Diesmal band er auch Tyes Finger fest zusammen. Als er fertig war, ließ er Tye bewusstlos liegen, von oben bis unten eingewickelt wie in einen Kokon. Dann steckte er sein Schwert zurück in die Scheide unter seinem Mantel.
»Du bist ein Monster«, sagte Rose.
Er zwinkerte ihr zu. »Dieses Wort aus deinem Mund. Beinahe amüsant.«
Er nahm das Bündel mit dem Feenkopf und schob seine beiden Gefangenen durch die Tür der Chorempore, die Treppe hinunter und zur Kirche hinaus.
Draußen war die Dämmerung hereingebrochen. Die Sonne war hinter Türmen und Dachspitzen versunken und hatte nur Streifen von schmutzigem Rot zurückgelassen, die aussahen wie Wunden. Als sie die große Eingangstreppe hinuntergingen, bemerkte Lily, dass ihre Füße rostbraune Flecke auf den Stufen hinterließen – das Blut der Fee.
»Lily?« Die Stimme ihrer Mutter war zum Zerreißen gespannt. »Dieser Drache … Ich kenne ihn … «
Lily blickte hinauf zu dem Angeketteten Drachen. Er war ganz still. Wahrscheinlich schlief er, um seinen Vorrat an Magie zu schonen. »Woher weiß ich, dass Sie mich, Mom und Tye nicht einfach beseitigen, wenn sie uns nicht mehr brauchen?«, fragte Lily Mr Mayfair.
»Euch bleibt gar keine andere Wahl, als mir zu vertrauen, meine Liebe«, kam prompt die Antwort.
Lily fand diese Erwiderung nicht gerade beruhigend.
Einen Arm um ihre Schultern gelegt, eskortierte Mr Mayfair sie über den Platz. In der anderen Hand trug er das Bündel mit dem Feenkopf. Rose ging wie betäubt neben den beiden her. Ab und zu sah sie sich nach dem steinernen Drachen um. Er schlief weiter.
Bleib ruhig, befahl sich Lily. Denk nach. Es musste doch irgendetwas geben, das sie tun konnte. Aber was? Sollte sie ihn etwa außer Gefecht setzen, indem sie ihre tollen Superkräfte auf den Rasen wirken ließ? Sie hatte ihn kämpfen sehen. Er war stärker und schneller als eine Raubkatze. Ihre einzige Hoffnung ruhte auf den Efeuranken im Innenhof von East Pyne.
Doch Mr Mayfair umrundete das große Gebäude und bugsierte sie auf direktem Weg Richtung Nassau Street. Sie verließen den Campus durch eine Liefereinfahrt, wobei er streng darauf achtete, dass sie immer genau in der Mitte der Straße blieben, weit weg von allen Pflanzen.
Nassau Street lag still und verlassen da wie ein leerer Parkplatz, nur erleuchtet von Straßenlaternen und dem Licht, das aus Schaufenstern fiel. Den Verkehr hatte man über Nebenstraßen umgeleitet, und die Campuspolizei hatte alle Zivilisten weggescheucht. Gelbes Flatterband grenzte den gesamten Vorplatz von Nassau Hall ab. Einer der Wachposten erkannte Mr Mayfair und winkte sie durch die Absperrung. Lily versuchte, dem Mann in die Augen zu sehen, als sie an ihm vorbeigingen, doch es klappte nicht.
Mr Mayfair schob seine beiden Gefangenen durch den Seiteneingang und mitten auf den Rasen. Grashalme erschauerten, als Lilys blutverschmierte Schuhe sie berührten, doch die Bäume schienen ihre stummen Hilferufe nicht zu hören.
Vor dem Tor blieb Mr Mayfair stehen.
»Du denkst jetzt schön an deine Mutter und tust, was ich sage. Keine Heldentaten. Klar?«
Lily schluckte. »Kristallklar.«
Mr Mayfair zog Rose näher zu sich heran, und dann warteten sie.
Bald erschienen die magischen Wesen. Marschierend, hinkend, sich schlängelnd, fliegend, kriechend und stolpernd kamen sie hinter Nassau Hall hervor über den schattendunklen Hof auf sie zu. Einige wurden getragen. Andere wimmerten bei jedem Schritt vor Schmerz. Lily sah Blutspritzer und Dreckflecke auf Gesichtern und nackter Haut. Weiter hinten entdeckte sie ihre Großmutter, hochgewachsen und unirdisch, inmitten ihrer üblichen Dryaden-Entourage. Neben mehreren Einhörnern, allesamt schweißnass und schmutzverkrustet, marschierten der Gebildete Affe und die anderen Gargoyles. Und zwischen all den Zentauren, Medusen, Elben, Kobolden und
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