Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
und Jakes Mutter unerwähnt gelassen hatte.
Tye hatte es ebenfalls bemerkt. »Meine Mutter war auch ›verloren‹.«
»Sie ist zur Verräterin an der Menschheit geworden«, entgegnete Mr Mayfair verächtlich, »wie die Tatsache deiner Existenz ja deutlich belegt.«
Moms Atem ging immer schwerer, als ob bei jedem Zug, den sie nahm, eine Faust ihre Lungen zusammenpressen würde. »Wenn Sie so ein Musterbeispiel für Tugend sind«, sagte Lily, »warum haben Sie Ihrem Enkel dann niemals die Wahrheit gesagt? Warum haben Sie ihm nicht erzählt, dass Sie für den Tod seiner Eltern verantwortlich sind? Ich wette, dann hätte er Sie einen ›abscheulichen Irrtum der Schöpfung‹ genannt.«
Für den Bruchteil einer Sekunde verdunkelte ein schmerzhafter Schatten Mr Mayfairs Gesicht. Zum ersten Mal nahm Lily eine andere Emotion bei ihm wahr als diese ruhige Gelassenheit. »Jake ist jung und steckt noch voller Ideale«, sagte er dann. »Eines Tages wird er verstehen, dass ich einem größeren Ganzen diene.«
»Wenn er stirbt, wird er es nie mehr verstehen können«, erwiderte Lily. »Und welchem ›größeren Ganzen‹, bitte, dienen Sie, wenn Sie meine Mutter hierbehalten? Sie haben doch mich. Und Tye. Sie können sie gehen lassen, denn sie ist keine Bedrohung für Sie.«
»Eine Bedrohung ist sie in der Tat nicht«, stimmte er zu, »sondern eine Versicherung.« Damit zog er ein Fläschchen Magie aus der Tasche, richtete Lilys Mutter auf und träufelte ihr etwas von der silbrigen Flüssigkeit in den Mund. Spuckend und hustend kam Rose zu sich und schlug die Augen auf.
»Mom!«, rief Lily. »Bist du okay?«
Der Blick ihrer Mutter wanderte stumm hinüber zu Lily, über ihre Fesseln und weiter zu Mr Mayfair. Dann begann sie, aus Leibeskräften zu schreien. Mr Mayfair presste ihr die Hand auf den Mund. Das Schreien wurde zu einem erstickten Wimmern. »Ich hätte dich vielleicht etwas länger ohne Nachschub lassen sollen«, stellte er nüchtern fest. Moms Blick flackerte unkontrolliert.
»Beruhige dich, Mom, bitte«, sagte Lily. »Alles ist gut.« Wie leicht ihr die Lüge von den Lippen ging! »Atme ganz tief ein. Und jetzt wieder aus.«
Ihre Mutter gehorchte.
Eine Minute später nahm Mr Mayfair seine Hand von ihrem Mund.
»Und jetzt«, sagte er, »hörst du mir genau zu. Du willst doch, dass deine Tochter in Sicherheit ist?«
Rose nickte, die Augen weit aufgerissen.
»Und deine Tochter will – aus irgendeinem mir völlig unerklärlichen Grund – , dass du auch in Sicherheit bist«, fuhr er fort. »Also werden wir jetzt Folgendes tun: Wenn die Schlacht vorüber ist, werdet ihr mich beide zum Tor begleiten. Lily wird die Armee aus potenziellen Feedern in eure Welt zurückbringen, und sie wird mir dabei helfen, meinen guten Ruf unter den Rittern und Gargoyles wiederherzustellen, den sie so schön ruiniert hat. Du wirst durch das Tor gehen und die Dryade wird mir meinen Enkel wiedergeben. Hast du das verstanden?«
In Moms Augen tobte ein Sturm. »Wenn du meiner Tochter auch nur ein Haar krümmst …«
»Gut«, unterbrach er sie. »Ich sehe, wir sind uns einig. Wenn du nicht tust, was ich sage, töte ich deine Tochter. Wenn Lily nicht gehorcht, töte ich dich. Alles klar?«
Rose nickte wortlos, bebend vor Zorn und Furcht.
»Und du?«, fragte er Lily.
Stumm, den Blick fest auf ihre Mutter gerichtet, nickte Lily ebenfalls.
Gelassen, als säße er in einem ganz normalen Büro, nahm Mr Mayfair sein Handy aus der Tasche und telefonierte.
»Ausgezeichnet!«, hörte Lily ihn sagen. »Schickt die Armee und die Gefangenen zum Tor. Wir werden sie dort treffen. Schadensbegrenzung einleiten.« Pause. Dann: »Wunderbar. Vielen Dank.« Er steckte das Gerät zurück in die Tasche. »Hervorragende Neuigkeiten«, sagte er. »Wir haben gewonnen.«
Er nahm Lily die Fesseln ab, zog sie und Rose auf die Füße und hob dann lächelnd das Bündel vom Boden auf, das den Kopf der Fee enthielt.
Während Mr Mayfair sie zur Tür führte, warf Lily einen Blick hinüber zu Tye. Er hatte es fast geschafft, seine Fesseln durchzuschneiden. Wenn sie Mr Mayfair ablenken könnte, nur für eine Sekunde … Sie schaute Tye direkt in die Augen und versuchte, ihm ihre stumme Botschaft zu übermitteln.
Tyes Mund formte drei Worte: Ich liebe dich.
Er tat was ?
Lily war so verblüfft, dass sie strauchelte und in dem Feenblut ausrutschte. Mr Mayfair packte sie am Arm. Das war genau die Ablenkung, die Tye brauchte. Er schnitt die letzte Fessel durch und
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