Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
zu. Er schien seiner Sache absolut sicher. »Du solltest einen Oscar kriegen«, meinte sie dann. Er war tief drin in diesem Rollenspiel, behandelte die Gargoyles niemals, als seien es bloß Roboter oder Marionetten … Allerdings, in diesem Fall verwechselte er etwas. Der Gebildete Affe hatte gesagt, die Gargoyles seien die Guten. »Mach dir keine Sorgen.« Sie stieg auf den Stuhl.
Von knapp unterhalb des Drachenschwanzes schaute sie nach oben in die traurigen Augen des Tieres. »Lass mich frei«, flüsterte eine Stimme, so leise, dass sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um überhaupt etwas zu hören. Die steinerne Zunge züngelte. »Lass mich frei«, wiederholte der Drache.
Es klang wie das Zischeln einer Schlange. Lily bekam Gänsehaut.
Dem Techniker war es gelungen, den Stein echt gruselig klingen zu lassen. Hut ab! Lily wäre am liebsten sofort vom Stuhl gestiegen und hätte einen gehörigen Abstand zwischen sich und diese Stimme gebracht.
Von der Treppe unter ihr fragte Jake: »Was sagt er? Du solltest nicht auf ihn hören.«
»Ich bin verletzt. Oh, es tut so weh.« Die steinerne Kette, bemerkte Lily, war so geschnitzt, dass es aussah, als schneide sie tief in den Hals des Drachen ein. Wie clever von den Old Boys, sich dieses Detail zunutze zu machen. So wirkte der Drache noch viel realer. »Bitte, ich flehe dich an. Rette mich.«
»Stein«, sagte Lily. »Du bist aus Stein.«
»Komm näher«, wisperte der Drache, »und ich zeige dir, wie du mich befreien kannst.«
Die Old Boys stellten sie auf die Probe. Aber was testeten sie hier? Ihr Mitgefühl oder ihre Widerstandskraft gegenüber moralischem Druck? »Ich weiß nicht, ob mir das erlaubt ist«, sagte sie.
»Lass mich frei!«, zischelteder Drache.
Nur ein Spiel , ermahnte sie sich. Nur ein Fantasy-Rollenspiel, das ein paar gelangweilte, privilegierte Kids während einer fröhlichen Bierrunde austüftelt hatten. Allerdings fiel es ihr zunehmend schwerer, bei dieser Version zu bleiben, denn die raue, traurige, schauderhafte Stimme des Drachen ging ihr durch Mark und Bein. Sie konnte den Widerhall noch im allerkleinsten Knöchelchen spüren. Eine süße kleine Steinmetzarbeit wie diese hier sollte nicht so schmerzvoll klingen. »Warum bist du angekettet?«, fragte sie den Drachen.
Der Skulptur entfuhr ein scharfes, zischendes Lachen. Lily drehte sich der Magen um. »Du bist von ganz allein zu mir gekommen, junges Ding, nicht wahr? Die Ritter haben dich nicht geschickt. Wie entzückend.«
Auch der Gebildete Affe hatte Ritter erwähnt. Sie fragte sich, wer wohl damit gemeint sein mochte. »Der Gebildete Affe hat gesagt … «
»Er ist noch hier? Dieser Narr. Er könnte frei sein! Ihn hat man nicht auf diese unnatürliche Größe geschrumpft und gegen seinen Willen in Ketten gelegt.« Wieder fuhr seine Zunge vor und zurück, grau wie Stein, doch schnell wie lebendes Fleisch.
»Wer hat dir das angetan?«, fragte Lily weiter.
»Das ist nicht die Frage, um derentwillen du gekommen bist.« Er klang seltsam amüsiert.
»Ich möchte wissen, wo ich den Ivy Key finden kann.«
Die steinernen Züge des Drachen bewegten sich so geschmeidig wie richtige Haut, als sein Gesichtsausdruck von traurig zu begierig wechselte. Lily erschauerte. Die Old Boys schienen unglaublich reich zu sein – sie konnten sich Spezialeffekte wie sprechende Steine und bewegliche Bücherregale leisten. » Und damit kommst du zu mir? Wie köstlich. Wie faszinierend. « Dann, im Befehlston: »Dein Name, Kleine.«
»Lily«, erwiderte Lily. »Lily Carter.«
»Ahh!« Er peitschte mit dem Schwanz. »Du kommst zu mir, um Antworten zu finden, weil die Menschen lügen, lügen, lügen. Komm näher, Lily Carter, und ich werde dir alles erklären.«
Zögernd blickte sie zu Jake hinunter.
»Lily, was sagt er?«, fragte Jake. »Du darfst ihm nicht vertrauen.«
»Gerade du darfst den Menschen am Allerwenigsten vertrauen«, fuhr der Drache fort. Ihr wurde klar, dass Jake nichts von all dem mitbekommen hatte, was der Drache sagte. Er redete so leise, dass nur sie allein ihn hören konnte. »Für dich sind ihre Wahrheiten nur halbe Wahrheiten. Ihre Antworten nur halbe Antworten.«
»Und du sagst mir die ganze Wahrheit?«
»Ich kann dir sagen, wer du bist.«
»Ich weiß, wer ich bin.«
Er züngelte. »Ich kann dir sagen, wie dein Vater gestorben ist.«
Was, zum Teufel, meinte er damit? Sie wusste, wie ihr Vater gestorben war: bei einem Autounfall. »Alles, was ich wissen muss, ist, wo
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