Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
Worte ergossen sich als schäumende Kaskade über sie. In so einer Stimme könnte man glatt ertrinken, dachte Lily.
Sie blinzelte heftig, doch ihre Augen wollten sich einfach nicht scharf stellen. Die Stimme schien einem weißen Fleck zu gehören, der sich vor einem braunen Hintergrund abzeichnete. Sie meinte, auch einen Strich Gold zu bemerken. »Wo ist ›hier‹?«, fragte sie. »Wer sind Sie?«
»Wenn sie wach genug ist, um Fragen zu stellen, dann ist sie auch in der Lage, welche zu beantworten«, sagte eine andere, tiefere Stimme, in der ein leichtes Knurren lag.
»Geduld«, sagte eine dritte, luftige, die beinahe amüsiert klang. »Sie wurde fast vollständig ausgesaugt. Deine ganzen schönen Befragungskünste sind bei Bewusstlosen vollkommen nutzlos.«
Ausgesaugt. Jake hatte dieses Wort benutzt. Es beschrieb exakt, wie sie sich gerade fühlte: als ob jemand das Mark aus ihren Knochen gesaugt hätte und sie jede Sekunde implodieren würde. Ihr Herz hämmerte wie wild in ihren Ohren, während sie sich fragte, was die luftige Stimme wohl mit »schöne Befragungskünste« meinte. »Was wollen Sie von mir?«
Atem, heiß und übelriechend, streifte ihre Wange, und eine Stimme knurrte: »Wir wollen wissen, wie viele Menschen du getötet hast, um zu überleben.«
»Was?« Lilys Augen begannen zu tränen, als sie mühsam versuchte, die Flecken und Streifen zu Umrissen zu verdichten. »Ich verstehe nicht. Ich habe noch niemals jemandem wehgetan.«
»Unmöglich«, widersprach die luftige Stimme.
Eine andere Stimme sagte: »Tye hat sich für sie verbürgt.«
»Kinder sind leicht zu täuschen«, grollte die tiefe Stimme. »In diesem Fall könnte es sogar sein, dass er getäuscht werden wollte . Du wirst uns jetzt Rede und Antwort stehen, Halbblut. Bist du ein Feeder?«
»Nein!«, schrie Lily mit aller Kraft und setzte sich auf. Feuer raste durch ihren Kopf. Sie presste die Hände gegen die Stirn und spürte wieder den Stoffverband. Wo der Drache sie gebissen hatte, stach Schmerz. »Ich bin kein Feeder. Und ich bin auch kein Halbblut. Ich bin überhaupt niemand.« Bis heute war ihr niemals etwas Ungewöhnliches widerfahren. Sie war einfach nur Lily, die im Blumenladen ihres Großvaters arbeitete, sich um ihre Mutter kümmerte und auf gute Noten versessen war.
»Du hast das Tor aus eigener Kraft passiert«, sagte die Wasserfallstimme. »Du bist ein Schlüssel.«
Lilys Blick begann sich zu klären, obwohl ihr Kopf noch immer furchtbar wehtat. Direkt vor ihr stand ein Pferd. Sie hob den Kopf, und der Körper des Pferdes verflachte sich zum Bauch eines Menschen. Einen Moment lang starrte sie wie gebannt auf die Stelle, an der menschliche Haut und Pferdefell ineinander übergingen, dann wanderte ihr Blick weiter nach oben, und sie sah in das Gesicht eines älteren Mannes.
Zentaur, schlug ihr Gehirn hilfreicherweise vor.
Hinter dem Zentauren stand ein Mann, dessen Gesicht mit Streifen von orange-schwarzem Tigerfell bedeckt war. Neben ihm thronte ein winziges, etwa fünf Zentimeter großes Männlein mit orangefarbenen Schmetterlingsflügeln auf der Schulter einer Frau mit einer Haut wie Porzellan, nachtschwarzem Haar und spitzen Ohren. Zur Linken der Elbenfrau bildete ein Haufen Steine eine lose Gestalt, die sich bewegte und atmete, als sei sie lebendig.
Und zu guter Letzt war da noch ein Einhorn, das Lily am längsten betrachtete. Es sah aus wie ein Strahl reinsten Mondlichts. Sein Fell war von schimmerndem Weiß, die ganze Gestalt so makellos und vollkommen wie eine Skulptur von Michelangelo. Das goldene Horn leuchtete wie ein Glorienschein.
»Wie fühlst du dich, Kind?«, fragte die Elbenfrau. Der Klang ihrer Stimme deutete an, dass sie nicht im Geringsten an Lilys Antwort interessiert war oder daran, ob sie überhaupt antwortete. Sie sah auf Lily hinunter, als sei sie ein nur mäßig interessantes, wissenschaftliches Experiment.
Gut möglich, dass ich das alles träume, dachte Lily. Sie konnte bewusstlos sein, k. o. gegangen bei dem Sturz auf den Gehweg, weil Jake sie nicht aufgefangen hatte. Sie konnte aber auch komplett den Verstand verloren haben – angesichts ihrer Familiengeschichte die wahrscheinlichste Variante. Viel wahrscheinlicher als der Gedanke, Professor Ape könnte die Wahrheit gesagt haben. »Ich brauche meine Medizin«, sagte Lily und gab sich alle Mühe, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. »Wo ist mein Großvater?«
»Wer ist dein Großvater?«, knurrte der Mann mit dem
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