Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
gesagt hatte: »Solltest du dich schwach fühlen oder merken, dass dir schwindelig wird oder so, geh durch das Tor!« Sie griff nach dieser Erinnerung und klammerte sich an ihr fest wie eine Ertrinkende an einem Strohhalm. Es war der einzige zusammenhängende Gedanke zwischen den dunklen Wirbeln in ihrem Gehirn. Sie fühlte sich schwach; sie brauchte das Tor.
Lily kämpfte sich schwankend auf die Füße. Der Platz kippte. Alles drehte sich.
»Mehr!«, schrie der Drache.
Sie hörte, wie andere Stimmen etwas riefen, und konnte nur noch eines denken: Tor. Sie musste durch das Tor gehen. Bebend und zitternd, halb laufend, halb kriechend, kämpfte sie sich über den Platz, durchquerte den Innenhof von East Pyne, stolperte an Nassau Hall vorbei. Dann kippte der grüne Rasen vor dem Gebäude ihr entgegen. In ihren Ohren dröhnte es, wieder drehte sich alles.
Sie klammerte sich an einer Eiche fest. Ihre Finger verschmolzen mit der Rinde. Ganz tief sog sie den Duft des Baumes ein. Er gab ihr neue Kraft. Sie stieß sich von dem Stamm ab. Die wenigen Menschen, die sich auf dem Hof befanden, schwammen in ihr Blickfeld hinein und wieder hinaus. Sie umging sie, hörte entfernt, wie sie nach ihr riefen, fragten, ob alles in Ordnung sei. So wankte sie Richtung FitzRandolph Gate.
Dort angekommen, blieb sie stehen und sah hinauf zum Wappen von Princeton. Als ihr Blick sich erneut trübte, verschwamm es zu einem bunten Fleck. Die steinernen Adler vervielfachten sich. Hinter dem Tor konnte sie Nassau Street sehen. Geh durch das Tor, wiederholte Tyes Stimme gebetsmühlenartig in ihrem Kopf. » Warum? «, fragte sie sich. Aber es tat weh, durch den Nebel des Schmerzes hindurchzudenken. Es war einfacher, der Stimme zu gehorchen.
Lily warf sich durch das Tor.
Die Welt versank in einem weißen Blitz.
Sekunden später lag Lily rücklings auf Gras, nicht auf einem Gehweg. Ihr Blick ging nach oben, die Außenseite vom FitzRandolph Gate hinauf. Sie sah das Wappen von Princeton … doch die steinernen Adler waren verschwunden.
An ihrer Stelle hockten zwei Adler, deren Federn metallisch-golden schimmerten. Kreischend schwangen sich die beiden Vögel von ihren steinernen Säulen hoch in die Lüfte. Dort oben zogen sie ihre Kreise, dunkle Schatten vor einem wolkenlosen Himmel. Lily sah, wie ein dritter Vogel mit Federn wie Feuer zwischen den beiden hindurchschoss, dann erblickte sie den Umriss eines geflügelten Löwen. Er zeichnete sich deutlich ab vor dem blauen … Wo bin ich?, dachte sie. Was geschieht mit mir? Als sie versuchte, sich hochzurappeln, fiel sie wieder nach vorn und landete auf allen vieren.
Sie hob den Kopf. Gemessenen Schrittes kam ein Tiger auf sie zu. Sein Schwanz peitschte von einer Seite zur anderen. Ihr Herz begann so dröhnend in ihren Ohren zu hämmern, dass jeder andere Laut erstickt wurde. Lily biss die Zähne zusammen und stand auf.
Am ganzen Körper zitternd, wich sie vor dem Raubtier zurück, das näher und näher kam. Lauf, flüsterte es in ihrem Kopf. Lauf! Aber sie konnte nicht. Sie strauchelte.
Der Tiger begann zu schillern wie eine Zeichnung aus langsam zerfließender Tinte. Wellen liefen durch sein Fell. Dann fiel er in sich zusammen, und sein Körper streckte sich nach oben. Beine schossen unter ihm hervor, Arme wuchsen aus ihm heraus. Langsam verdichtete sich der farbige Fleck zu einem Jungen mit orange-schwarzem Haar.
»Tye«, keuchte Lily.
Er fing sie auf, als ihre Knie nachgaben und sie zusammenbrach.
Kapitel sechs
L ily hörte halblautes Gemurmel. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, doch ihre Lider waren wie angeklebt. Als sie einen Arm hob, um ihr Gesicht zu betasten, spürte sie Stoff. Mit aller Kraft riss sie die Augen auf und sah einen weißen Lappen. Er war um ihre Hand gewickelt.
Verband, dachte sie. Wie nett. Ihr Blick erlosch wieder.
Als sie das nächste Mal zu sich kam, lag sie auf dem Rücken. Über ihr war eine holzgetäfelte Decke. Die Platten schwankten zuerst und drehten sich, doch dann beschlossen sie stillzuhalten und bildeten ein stabiles geometrisches Muster. Sie drehte den Kopf, und wieder verschwamm alles vor ihren Augen. Gestalten, die um sie herum standen, sahen aus wie Streifen weißen Lichts und Schattenmuster.
Panik stieg in ihr hoch und schnürte ihr die Kehle zu. »Tye?«, brachte sie heraus. Es war nur ein heiseres Krächzen. Sie versuchte es noch einmal. »Tye?«
»Der junge Wertiger ist nicht hier«, sagte eine Stimme, die wie ein Wasserfall klang. Die
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