Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
steinerne Drachenschwanz zu zucken, schlug geräuschvoll gegen das umgebende Steinlaub. Kleine Staubwölkchen stiegen auf und fingen das Sonnenlicht ein.
»Diesmal will ich die ganze Wahrheit wissen«, sagte Lily.
»Dann komm näher« , zischte der Drache.
Lily schniefte verächtlich. »Hältst du mich wirklich für so dumm?«
»Du bist zurückgekommen. Das bedeutet, du bist entweder sehr töricht oder sehr verzweifelt.«
Seine Stimme glitt über ihre Haut wie eine Schlange. Obwohl sie darauf gefasst gewesen war, konnte Lily nicht verhindern, dass ihr schauderte. »Weißt du denn noch immer nicht, wozu ich fähig bin?«
»Doch, ich denke schon«, erwiderte Lily. »Ich glaube, du hast meinen Vater getötet.«
Der Angekettete Drache lächelte. »Oh ja. Ja, das habe ich.«
Lily war geschockt. Ihr fehlten die Worte. Ihr Vater war vor sechzehn Jahren nicht bei einem Autounfall gestorben. Ein Drache hatte ihn umgebracht.
Das war also jenes Ereignis gewesen, das alles verändert hatte.
»Natürlich war es ganz und gar nicht meine Absicht, ihn zu töten«, fuhr der Drache fort.
»Wie?« Sie sollte also wirklich glauben, es sei am Ende doch bloß ein Unfall gewesen? Uups, der Drache hat aus Versehen angegriffen? Sie hatte ihren Vater verloren! Und Jake hatte sogar beide Eltern verloren, einschließlich der Frau, die seine Mutter war und die von Tye …
»Meine Absicht war es« , schloss der Drache, »dich zu töten.«
Unfähig zu denken, unfähig zu atmen, flüchtete Lily in die Kirche. Dröhnend hallten ihre Schritte auf dem Steinfußboden wider, als sie zwischen den Bankreihen entlanglief. Blaues Licht fiel durch die Bleiglasfenster und malte farbige Flecke ins Dunkel der Schatten. Stille umfing sie.
Hier drin konnte sie weder das entsetzliche Lachen des steinernen Drachen hören noch das Summen der Bäume oder das Sirren des Efeus. Hier drin konnte sie endlich wieder atmen. Sie ließ sich in eine der Bankreihen sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.
Hinter ihr erklangen Schritte, doch sie drehte sich nicht um. Sie hatte keine Lust, irgendeinem wildfremden Alumnus zu begegnen, der sich die Kirche ansehen wollte, oder einem Priester, der nicht merkte, dass sein geweihtes Gotteshaus als Gefängnis für einen Mörder diente.
Schwer legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Lily fuhr hoch und wirbelte herum.
»Ganz ruhig«, sagte Mr Mayfair und breitete die Hände aus, um anzudeuten, dass er nichts Böses im Schilde führte. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen. Aber mit seinem teuren, sorgfältig gestärkten Hemd war er niemand, den man einfach so umarmte. »Woher haben Sie … «
»Gewusst, dass du hier bist?«, beendete Mr Mayfair die Frage. »Die Adler haben uns von deiner Rückkehr in Kenntnis gesetzt. Ich war gerade auf dem Weg zum Tor, um dich abzuholen, als ich dich draußen vor der Kirche sah.«
»Grandpa?«, fragte sie ganz leise.
Er tätschelte ihre Schulter. »Unverändert. Keinerlei Reaktion, aber stabil.«
Sie ließ den Kopf wieder in die Hände sinken.
»Du hast mit dem Drachen gesprochen«, wechselte Mr Mayfair das Thema. »Er hat dich aus der Fassung gebracht.«
»Ist es wahr?«, fragte Lily und sah zu ihm hoch. »Hat er wirklich … « Dann bemerkte sie sein schmerzverzerrtes Gesicht, und es fiel ihr wieder ein. Jakes Vater war Mr Mayfairs Sohn gewesen. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Der Drache sagte … Er hat gesagt, er wollte eigentlich mich töten.«
Seufzend ließ Mr Mayfair die Schultern sinken. Plötzlich sah er alt und müde aus, als hätte sich das ganze Gewicht des Kirchendaches auf seinen Rücken gelegt. »Ich wusste, du würdest es irgendwann herausfinden.«
»Meine Mutter … Sie hätte doch weiter mit mir hin- und hergehen können. Sie hätte ihr Gedächtnis behalten können, ihre geistige Gesundheit. Aber sie ist nie mehr in die magische Welt zurückgekehrt.«
»Sie fand, es sei das Beste für dich, ganz normal aufzuwachsen, weit weg vom Tor«, erwiderte Mr Mayfair. »Sie hat deinen Großvater davon überzeugt, dass es den Preis wert sei, den sie selbst dafür zahlen müsse. Sie hat zugelassen, dass ihre Familie sie für tot hielt, und damit ihren eigenen Verfall besiegelt.«
Ein paar Minuten lang sagte Lily gar nichts und versuchte zu verdauen, was sie da eben erfahren hatte. »Aber als der Drache wieder gefangen war und in sicherem Gewahrsam, warum ist sie dann nicht zurückgekehrt? War ich denn immer noch in
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