Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
Blätterdach und fand sich im strahlenden Licht der Sonne wieder. Die Zweige begannen, sie einzuhüllen. »Tye! Jake!« Dann formten die Blätter schwirrend und surrend wie die Flügel einer Windmühle einen wirbelnden Zylinder. Wieder ein Aufschrei, als sie durch die stabile Röhre aus Grün raste. Blätter und Zweige rauschten nur so an ihr vorbei. Hilfe suchend grapschte sie nach einigen von ihnen. Plötzlich stürzte sie wie ein Stein nach unten. Doch ein dichtes Netz ineinander verwobener Zweige, Ranken und Blätter hemmte ihren Fall. Schließlich zogen sich die Bäume zurück, und sie blieb auf einer Schicht aus weichen Kiefernnadeln liegen. Neben ihr erhob sich das FitzRandolph Gate.
Die goldenen Adler auf den Säulen kreischten warnend.
Sie konnte es sich auf keinen Fall leisten, noch einmal zum Rat zurückgeschickt zu werden. Hastig rappelte sie sich hoch und warf sich in das Tor. Ein Blitz tauchte die Welt in blendendes Weiß, und Lilys Körper landete rutschend auf dem Plattenweg, der hinüberführte nach Nassau Hall.
Keuchend blieb sie liegen. Ihre Kehle war ganz wund vom Schreien. Zwar spürte sie immer noch das Prickeln von Magie auf ihrer Haut, doch es verebbte langsam. Und hinter sich hörte sie die Geräusche vorüberfahrender Autos, gemischt mit dem Summen der Bäume. Sie wandte den Kopf. Da waren die Cafés und Läden von Nassau Street.
»Willkommen daheim, kleiner Schlüssel«, sagte einer der steinernen Adler.
»Danke«, erwiderte Lily ganz automatisch. Dann sah sie zu den beiden Vögeln hinauf. »Ihr seht doch alles, was hier vor sich geht, oder?«
»Natürlich«, sagte der Adler, der sie begrüßt hatte.
Lily stand auf. »Könnt ihr euch an meine Mutter erinnern? Rose Carter? Als sie das letzte Mal durch dieses Tor kam … Ist da irgendetwas Ungewöhnliches passiert?«
Die beiden Adler schwiegen.
Schon kam ihr der Gedanke, sie würden nie mehr antworten.
»Du warst noch ein Baby, als sie das letzte Mal hier durchgekommen ist«, sagte der erste Adler schließlich. »Sie hielt dich im Arm. Dann waren da noch dein Vater und Jake Mayfairs Mutter. Sie trafen hier auf Jakes Vater. Das überraschte sie sehr, wenn ich mich recht entsinne.«
»In der Tat«, stimmte der zweite Adler zu. »Es herrschte Feindschaft zwischen ihm und seiner früheren Frau, doch er war gekommen, um den Streit beizulegen.«
Lily fiel ein, was Grandpa über Jakes Eltern gesagt hatte. Darüber, dass sie damals gerade dabei gewesen wären, »ihren Frieden miteinander zu machen«. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Die eine Hälfte von ihr wollte gar nicht hören, was als Nächstes geschehen war. Die andere war ziemlich sicher, es bereits zu wissen. »Und dann?«
Wieder verfielen die steinernen Adler in Schweigen.
»Bitte, ich muss die Wahrheit wissen.«
»Die Menschen nennen es ›Die Tragödie vom FitzRandolph Gate‹«, sagte der erste Adler.
»Es ist nicht an uns, dir davon zu erzählen«, sagte der zweite Adler.
»Nein, ist es nicht«, stimmte der erste Adler zu. »Frag deinen Großvater.«
»Er ist schwer verletzt«, sagte Lily. » Ihr müsst es mir sagen. Mom erinnert sich an nichts. Ich muss es wissen. Warum ist sie damals nicht zurückgegangen?«
Doch die Adler blieben stumm.
Lily schlang die Arme um sich. Eigentlich war es gar nicht kalt, doch sie konnte nicht aufhören zu zittern. In einer Sache hatte die Dryadenkönigin jedenfalls recht gehabt: Das letzte Mal, als Mom durch dieses Tor gegangen war, war etwas geschehen, das die Dinge von Grund auf verändert hatte. Und Lily hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was dieses »Etwas« gewesen sein könnte. Wenn sie richtig lag, dann waren ihre Eltern, Jakes Eltern und die Adler an diesem Tag nicht die Einzigen am Tor gewesen.
Ihre Füße setzten sich von ganz alleine in Bewegung. Die umstehenden Eichen summten und wisperten. Sie ging schneller. Als sie durch den Innenhof von East Pyne kam, begann sich der Efeu zischend zu winden. Sie fing an zu rennen.
Vor der Kirche angekommen, heftete sie ihren Blick fest auf den Angeketteten Drachen. Er war noch immer angeschwollen. Der steinerne Schlangenkörper nahm fast die gesamte rechte Hälfte des Bogens ein. Der Schwanz ringelte sich zwischen den in Stein geschnitzten Trauben, Blättern, Vögeln und Füchsen, und das Gesicht mit den traurigen Hundeaugen hing ganz tief, genau über der Tür.
Lily blieb direkt unter ihm stehen. »Ich bin wieder da«, rief sie. »Wach auf!«
Über ihr begann der
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