Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
Gefahr?«
Mr Mayfair musterte sie. »Was bist du nur für ein schlaues Mädchen. Kein Wunder, dass Richard so stolz auf dich ist.«
Lily spürte einen Kloß im Hals. Grandpa hatte ihr immer gesagt, wie stolz er auf sie war. Sie sah ihn vor sich, wie er sie am Tor abgeholt hatte, strahlend übers ganze Gesicht vor Freude. »Der Schlüsseljunge … Er hat doch sicher gewusst, dass er dem Drachen nicht zu nahe kommen durfte«, überlegte Lily laut. »Wie hat der Drache ihn gefangen? Das hätte er doch niemals allein geschafft.«
»Komm«, sagte Mr Mayfair. »Es ist jemand hier, der all deine Fragen beantworten kann. Sie erwartet uns schon, oben auf der Chorempore.«
Lily drehte sich in der engen Bank um und sah nach oben. Die Chorempore war eine mit Bankreihen bestückte Galerie unterhalb der Orgelpfeifen. Über ihr befand sich ein Kirchenfenster in Form einer Rose, durch dessen blaue Scheiben sanftes Licht auf die Empore fiel. Ganz vorne schien die Luft zu flimmern wie über heißem Asphalt. Als sie die Augen zusammenkniff und genauer hinsah, zeichnete sich eine Gestalt ab. In einer der Kirchenbänke kniete jemand wie zum Gebet. »Wer ist das?«
»Komm mit mir nach oben«, sagte Mr Mayfair. »Ich werde euch einander vorstellen.«
Er ging hinaus in den Vorraum. Lily folgte ihm. An der Treppe aus weißem Marmor blieb er stehen, hakte die rote Samtkordel mit dem Schild Empore geschlossen ab und bedeutete ihr, vorauszugehen.
Stufe für Stufe stieg sie hinauf. Oben angekommen, öffnete Mr Mayfair die Tür zur Chorempore. Sie war bestückt mit sechs hölzernen Bankreihen, von denen aus man den gesamten Kirchenraum überblicken konnte. Aus der hinteren Wand ragten Orgelpfeifen aus Messing hervor.
In der ersten Bank hinter der Galeriebrüstung kniete eine Frau.
Als Mr Mayfair die Tür hinter sich und Lily schloss, stand sie mit einer einzigen flüssigen Bewegung auf und wandte sich ihnen zu. Ihr Gesicht war von puppenhafter Schönheit, die Haut so glatt wie Plastik, die Haare von schimmerndem Platinblond. Sie trug ein schlichtes weißes Sommerkleid, das ihre Makellosigkeit besonders gut zur Geltung brachte – und ihre hauchdünnen Flügel. Die spinnwebzarten, irisierenden Gebilde umrahmten den Kopf wie ein zweifacher Heiligenschein und fielen dann in sanftem Schwung gleich einem Brautschleier hinab bis auf den Fußboden. Lily starrte das Geschöpf verblüfft an und fragte sich, was zur Hölle hier vorging.
»Ein Geschenk? Für mich?«, fragte die Fee. »Aber das wäre doch nicht nötig gewesen.«
»Sie ist ein Schlüssel«, sagte Mr Mayfair.
Die Fee lachte – ein helles Klirren, als ob Kristall splitterte.
»Brillant! Das muss die Tochter der Dryade sein.«
Instinktiv machte Lily einen Schritt rückwärts. Mr Mayfair legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zu stoppen. »Wer ist sie?«, fragte Lily ihn und versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten. Es bestand überhaupt kein Grund zur Aufregung. Das hier war Joseph Mayfair, der Chef von Vineyard Club, ein edler Ritter und Grandpas ältester Freund.
Ohne die Frage zu beantworten, sagte Mr Mayfair freundlich: »Ich hoffe, du verstehst, dass das hier keineswegs persönlich gemeint ist. Ich bewundere deine Intelligenz und deinen Einfallsreichtum. Aber solange Reisen zwischen den beiden Welten möglich sind, wird der Krieg zwischen der Menschheit und den Feedern niemals ein Ende finden.«
Bitte, dachte Lily. Lass das nicht wahr sein. Sie sah in seine ernsten blauen Augen. »Was soll das heißen?«
»Alle magischen Wesen sind potenziell Feeder.« Er klang geduldig, beinah großväterlich. »Will man die Menschheit wirklich schützen, dann gibt es nur einen Weg: Der Zugang von einer Welt zur anderen muss für alle Zeiten verschlossen werden.«
Wieder lachte die Fee klirrend. »Die Tür abschließen und den Schlüssel wegwerfen«, stimmte sie zu, »Wortspiel natürlich beabsichtigt.«
Lily riss sich von Mr Mayfair los und stürzte Richtung Tür. Doch der schoss mit Leichtigkeit an ihr vorbei und packte sie mit eisernem Griff am Handgelenk.
»Ich bin wirklich untröstlich darüber, wie die Dinge sich entwickelt haben.« Sie wand sich und versuchte mit aller Kraft, von ihm wegzukommen. »Dein Großvater bestand darauf, dass du den Legacy Test absolvierst. Um deiner Mutter willen. Ich wollte ihm klarmachen, dass es am sichersten wäre, dich weiterhin im Ungewissen zu lassen. Und in der Tat – als alle Überredungskunst nichts half, da schickte ich den Kobold los,
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