Ja Mei - Wie Ich Lernte, Die Ehe Zu Schliessen
Morgen höre ich Roni unter der Dusche singen: «She’s like the wind», aus dem Schmachtfilm «Dirty Dancing». Obwohl ich den Film nicht mag, höre ich ihr gern dabei zu. Ich beschließe, unsere Hochzeitspläne voranzutreiben. Was man hat, hat man.
«Wollen wir noch diesen Sommer heiraten?», frage ich.
Roni schiebt den Duschvorhang zur Seite und schaut mich erstaunt an.
«Was ist denn mit dir los? Hast du was angestellt?»
«Nein, wieso? Ich dachte nur, wir müssen ja nicht ewig warten.»
«Der Sommer ist bald vorbei, mein Lieber. Und vielleicht kann ich ja zuerst mal deine Familie kennenlernen? Warum machst du überhaupt so ein Geheimnis daraus? Schämst du dich, dass ihr da oben keine richtigen Berge habt?»
Frechheit! Ich erkläre Roni, dass wir durchaus Berge haben: den «schiefen Buckel», den «Schäferberg» und den «dicken Pickert». Okay, die sind vielleicht nicht so berühmt wie die Alpen, aber in unserer Gegend durchaus angesehen. Mein Problem ist vielmehr, dass ich in meiner westfälischen Heimat einfach nicht mehr zu Hause bin.
Ich habe mich schon früher nicht als Teil der Dorfjugend gefühlt. Die hatten ihren Spaß mit Wettsaufen und Autotuning. Ich dagegen trank, um Tiefenwalde zu vergessen, und mochte Autos nur, weil man mit denen aus dem Kaff rauskam.
«Aber ich will wissen, wo deine Wurzeln sind.»
«Ein paar von meinen Wurzeln sind ziemlich verschwurbelt.»
«Das sagst du einer Bayerin.»
Ich gebe auf. Am Ende setzt sie sich sowieso durch.
«Einverstanden. Wir fahren nach Tiefenwalde. Aber unter Protest.»
Roni zieht den Vorhang wieder zu und murmelt: «Wie man in den Wald hineinfährt, so fährt man auch heraus.»
Ach, sie hat ja keine Ahnung. So eine Grünkohlwanderung ist eine ganz schön harte Sache. Die Dorfgesellschaft zieht grüppchenweise durch jene Gebiete des Teutoburger Waldes, in denen um 9 n. Chr. der römische Feldherr Varus seine Legionen im Kampf gegen grünkohlgestählte Germanenhorden verlor – was, der lippischen Interpretation zufolge, den Anfang vom Ende des römischen Reiches einläutete. Da die Römer mittlerweile besiegt sind, müsste die Grünkohlwanderung eigentlich obsolet geworden sein. Darauf kommt aber keiner der beteiligten Neogermanen, weil sie sich unterwegs gnadenlos besaufen. Gegen Mittag fallen die Horden dann mehr oder weniger vollzählig in einen Gasthof ein, wo deftiges Essen serviert wird: Grünkohl mit Bregenwurst. Diese Spezialität enthält angeblich Gehirn. Davon merkt man bei ihren Anhängern leider nichts.
Der Rest ist schnell erzählt: Wer am meisten Grünkohl mit Hirnwurst verdrückt hat, wird zum König ernannt, muss einen ausgeben und im nächsten Jahr die Wanderung organisieren. Der Abend endet offiziell mit «Musik und Tanz», im Klartext: mit karnevalsähnlichen Ausschweifungen, freundschaftlichen Prügeleien und dem immergleichen Bild: betrunkene Menschen, die andere betrunkene Menschen dazu überreden wollen, den Wagen stehen zu lassen und mit ihnen im dunklen Wald nach Hexenhäuschen zu suchen.
Meine Oma erzählt immer wieder gern von jener legendären Grünkohlwanderung vor fast fünfzig Jahren, als Tiefenwalde und das weiter südlich gelegene Fahlenberg noch eine Gemeinde waren. Der damalige Wirt des Wanderertreffpunktes Forstklause, die mitten auf dem Schäferberg in der neutralen Zone liegt, hatte sich im Datum geirrt und die Reservierungen doppelt vergeben: an die Tiefenwalder und an die Fahlenberger. Auf Sportturnieren und Schützenfesten hatte es schon immer kleinere Scharmützel zwischen den Jugendlichen beider Dörfer gegeben, doch als die Tiefenwalder und Fahlenberger an jenem Tag vor fünfzig Jahren gleichzeitig beim Lokal ankamen, brachte das den Grünkohlkessel zum Überkochen. Beide Gruppen pochten erst auf ihre Reservierung und dann aufeinander ein. Von jener Prügelei spricht man nach dem dritten Pils wehmütig als der «Zweiten Schlacht im Teutoburger Wald». Wer damals gewonnen hat, ist bis heute ungeklärt. Klar ist nur, dass Tiefenwalde-Fahlenberg anschließend per Volksentscheid in zwei Gemeinden geteilt wurde und dass seitdem zwischen den Grünkohlwanderungen beider Dörfer sechs Monate Sicherheitsabstand liegen müssen: Die eine findet in der traditionellen Grünkohl-Saison im Winter statt, kurz nach dem ersten Frost, wenn das Gemüse geerntet worden ist. Die andere steigt, entgegen dem Erntezyklus, jetzt im Juli. Da muss man zwar mit eingefrorenem Kohl vorliebnehmen, aber nach sechs Stunden im
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